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Stalingrad und seine Traumata

Einige unter uns haben es noch erlebt. Da wurde plötzlich auf der Straße geflüstert, wenn ein Mann vorbeikam, vielleicht mit einem mürrischen Gesicht, vielleicht gebeugt oder durch irreparable Verletzungen gekennzeichnet. Dann steckten die Erwachsenen die Köpfe zusammen und raunten sich etwas zu, das immer so klang wie Stalingrad. Diejenigen der Soldaten, die es jemals von der Schlacht um Stalingrad zurück nach Deutschland, in ihre Heimat, schafften, hatten nicht nur an einem der größten Gemetzel der neueren Militärgeschichte teilgenommen, sondern sie waren auch noch durch die Hölle der russischen Kriegsgefangenschaft gegangen, durch eisige Gulags, durch brennenden Hunger und endlose Hoffnungslosigkeit. Und für alle, die zurück geblieben waren, wurde der Name Stalingrad zum Synonym für die ganze Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges. Die wenigen, die zurückkamen, nährten diesen Superlativ noch mit Geschichten, die das Unvorstellbare zur Normalität machten.

Die Stalingradkämpfer der deutschen Wehrmacht waren mehrheitlich dort gelandet, um den Zugriff der Nazis auf das russische Öl zu sichern. Das taten sie nicht aus Überzeugung, sondern weil sie Soldaten waren und dem Kriegsrecht unterstanden. Das Ungerechte an solchen Situationen ist der Doppelcharakter solcher Missionen: Die dort landeten, um zu morden und gemordet zu werden, waren zu einem Großteil nicht dort, weil sie es so wollten. Sie wollten auch nicht das Öl. Sie waren dort, weil andere das Öl wollten, die sogar bereit waren, ihre Armee diesem Ziel zu opfern. Diejenigen, die von dieser wahnwitzigen Mission zurückkehrten, wurden dann nur noch als schlechtes Omen wahrgenommen. Ihr Heldentum, nämlich dass sie überhaupt überlebt hatten, ging unter in dem Trauma, sich insgesamt an einem Unternehmen beteiligt zu haben, das sich als eines der furchtbarsten der Geschichte herausstellen sollte. Die Helden waren keine Helden, und da das alles so schrecklich war, wurde das Heldentum schlechthin gleich mit abgeschafft.

Direkt nach dem Krieg frönten Nachbarn, die gehörig unter dem Größenwahn der Deutschen gelitten hatten, dass die Verlierer des großen Krieges die eigentlichen Gewinner seien. Sie hatten dabei das so genannte deutsche Wirtschaftswunder im Auge und die großzügige Hilfe vor allem der USA. Was weder die Nachbarn noch die USA zu jenem Zeitpunkt identifizieren konnten, war der Grad der Traumatisierung des gesamten Volkes. Vieles, was woanders normal ist, ist hier nicht mehr zu etablieren und alles, was nicht auf dem Diagnosebogen steht, ist suspekt bis zum akuten Ausbruch. Daraus lässt sich vielleicht erklären, dass die bloße Pose ausreicht, um als mutig zu gelten, dass dagegen die konsequente Verfolgung von Zielen, die als richtig und gerecht angesehen werden, schon nicht mehr ausgehalten und als Gewalt per se diskreditiert wird. Positive Identifikationsmuster sind ebenso suspekt wie pragmatisches Denken. Ersteren haftet das Aroma der ideologischen Verführung an, letzterem fehlt die moralische Legitimation.

Weit nach der Rückkehr der wenigen Stalingradkämpfer ist das immer noch so. Dem Trauma folgte die Verdrängung, der Verdrängung die Rebellion. Letztere war nie so richtig reflektiert. Wie anders könnte es sein, dass die Kinder derer, die rebelliert haben, derartig affirmativ mit dem erlittenen Trauma umgehen. Da simulieren Kerngesunde eine Krankheit und fühlen sich dabei auch noch gut und moralisch im Recht. Ein derartiges pädagogisches Fiasko muss erst einmal gelingen! Dafür ist in Stalingrad niemand gestorben! Auf keiner Seite der Front!

Der Mann im Parka

Er bot der Strömung die Stirn. Immer. Schon in den siebziger Jahren, als viele noch mit einem Parka bekleidet waren. Er trug den zwar auch, aber er blieb dabei. Als die Rebellen sich ihre Formen suchten, fand er seine eigene. Ihm war es fremd, sich einem Dogma zu unterwerfen. Als alle noch dachten, Computer seien Teufelszeug, setzte er, der Soziologe, sich damit auseinander und wurde ein Fachmann. Gefragt von den eigentlichen Profis, wenn die nicht mehr weiter wussten. Er kam dann und löste ihre Probleme. Für sehr viel Geld. Als diese seine Fähigkeiten erkannten und ihn zu kaufen suchten, zeigte er ihnen den Mittelfinger. Er spazierte in den Etagen ein und aus, in denen man maßgeschneiderte Anzüge trug und in handgemachten Schuhen über dicke Teppiche schritt, aber er hatte keine Lust, dort zu verweilen. Mit dem Geld fuhr er in die Welt, aß und trank gut, aber lebte ansonsten einfach. Kein Kontinent, den er nicht wie ein Penner betrat und als geschätzter Gesprächspartner wieder verließ.

Zu Silvester, wenn die Feste gefeiert wurden, pflegte er in die Sahara zu gehen, weil dort die Skyline so prachtvoll sei und er sich Inspirationen holen konnte. In Japan saß er in den Fresstempeln der Sumo Ringer und diskutierte mit ihnen über die Mitte. In Chile kochte er mit den Müttern derer, die nach dem Putsch gegen Allende in den Fußballstadien zu Tode gefoltert wurden. In den USA kannten sie ihn auf jeder Greyhound Station und in den Diners, die sonst nur die Trucker unter sich und vorgehaltener Hand empfahlen. Er tauchte in China auf und hielt vor tausenden wissbegierigen Studenten in einem Fußballstadion einen Vortrag über empirische Sozialwissenschaften. Er verschiffte Jeeps nach Afrika und Taxis in den Libanon. Er reiste nach Kurdistan, als viele noch gar nicht wussten, dass es dieses Volk überhaupt gab. Als Khomeini noch in Paris weilte, pilgerte er nach Teheran und in die persische Wüste. Und natürlich fuhr er mit dem Zug die komplette transsibirische Eisenbahn. Wenn er zurück war, in Deutschland, dann kaufte er sich Festivalpässe. Für den Film, für Jazz und elektronische Musik. Dann war er komplett absorbiert. Der Mann mit dem Parka kannte alles aus diesen Genres. Was es ihm antat, das war immer das Innovative, die Avantgarde, das Unregelmäßige und Rebellische. Er sprach schon von der Verbürgerlichung des Jazz, dem er eine ähnlich verhängnisvolle Entwicklung prognostizierte wie der Oper, als dort die Großen alle noch in der Blüte standen.

Seine Sprache war ein breiter pfälzischer Dialekt, den er nie ablegte. Sein Englisch war perfekt, nur mit dieser unverkennbaren pfälzischen Intonation. Zwischendurch, wenn er nicht wieder etwas erkunden wollte oder einen dieser kniffligen Jobs machte, von dem das technische Gelingen einer Bundestagswahl oder die Logistik eines Weltkonzerns abhing, räsonierte er über die Zeit, wenn er einmal alt wäre. Mal plante er sein Alter in Japan, natürlich wegen der Spiritualität seiner Bewohner, mal in der Schweiz, wegen der grandiosen Landschaft. Ab und zu wollte er auch zurück in die Pfalz. Jeder, der ihn kannte, verlor ihn immer wieder mal für ein oder mehrere Jahre aus den Augen. Aber wenn er wieder auftauchte, auch im 21. Jahrhundert immer noch im Parka und mit zerschlissenen Jeans, dann griff er in die zeitgenössischen Debatten mit einer Kraft und Präsenz ein, die ungemein inspirierte.

Allmählich jedoch verschwand er aus den Städten, nur wenige wussten, dass er zurück in das Dorf gegangen war, woher er kam. Und obwohl er erkrankte und die Ärzte ihm geraten hatten, seine Lebensweise umzustellen, ging er seinen alten Gewohnheiten nach, aß zu üppig und liebte den Wein. Die letzten, die ihn sahen, sprachen davon, dass er innerhalb weniger Monate ein alter Mann geworden sei. Grau sei er geworden und am Stock sei er gegangen. Den letzten, zu denen er Kontakt gehabt hatte, erzählte er, er ginge demnächst ins Krankenhaus, um sich behandeln zu lassen. Kürzlich wurde er gefunden. Tot in einem leeren Haus. Sein letzter Wille stand auf einem Blatt geschrieben, bitte keine Todesanzeige, keine Zeremonie, nur verbrannt wollte er werden. Diejenigen, die sich von ihm verabschiedeten, spielten schweigend einige Free-Jazz-Platten ab, die neben seinem Leichnam gelegen hatten. Der Mann im Parka wurde 63 Jahre alt.

Wieviel Rebellion birgt Kreativität?

In der Diskussion um die Zukunft unserer Gesellschaft wird immer wieder eine Sozialformation genannt, ohne die eine Neugestaltung von Wirtschafts- und Gesellschaftsleben nicht vorzustellen ist. Gemeint ist die kreative Klasse. Schaut man genau hin, wird deutlich, dass mit dem Begriff eine diffuse Vorstellung korrespondiert. Von einer genauen Definition ist man noch weit entfernt. Was das Phänomen allerdings nicht weniger wichtig macht. Bekanntlich hilft Diffusion dabei, sich zu etwas zugehörig fühlen zu können, ohne es nachweisen zu müssen. Zumindest ist die Attraktion der kreativen Klasse soweit fortgeschritten, dass sich die Politik vor allem in den Städten sehr um sie bemüht.

Der Amerikaner Richard Florida gilt als derjenige, der sich zu Beginn dieses Jahrtausends pionierartig Gedanken über Rolle und Charakter der kreativen Klasse gemacht hat. In seinen Büchern The Rise of the Creative Class und The Flight of the Creative Class beleuchtete der in Washington lebende Florida Charakter, Rolle und Umfeld des Phänomens. Demnach handelt es sich um Menschen, die außerhalb der gesetzten und tradierten ökonomischen, handwerklichen und Konstitutionsformen Produkte mit einem hohen Mehrwert produzieren. Meistens handelt es sich dabei um Freiberufler oder Aussteiger, die zunächst in semantischen wie ökonomischen Nischen Akzente setzen und so in nuce Produktionsmöglichkeiten mit hohem ökonomischem Nutzen andeuten. Florida benennt neben der kreativen Klasse, die er der Dramaturgie wegen die Talente nennt, eine triadische Komposition, die erforderlich ist, um in einer Globalökonomie reüssieren zu können: Talente, Toleranz und Technologien. Sind diese drei Voraussetzungen gegeben, so kann man laut Florida davon ausgehen, dass sich ein Gemeinwesen sehr günstig entwickelt.

Seitdem diese Thesen auf dem Tisch sind, ist ein globaler Prozess zu beobachten, der es ganz gehörig auf die drei Ts anlegt: Jede Stadt, die etwas auf sich hält, orientiert sich an dieser Faustregel und versucht, einen entscheidenden Sprung nach vorn gegenüber der Konkurrenz zu machen. Sind Technologien das Ergebnis einer längeren wissenschaftlichen und industriellen Entwicklung und ist Toleranz eine Qualität, die sich historisch hat fortschreiben müssen, so kann man die Talente noch am schnellsten zu sich locken. Talente sind zwar wählerisch, aber sie entscheiden sich auch, weil sie etwas erreichen wollen. Um es einmal sehr deutlich zu benennen: Talente und Technologien kann man kaufen, solange sich hinter den Begriffen unkritische Größen verbergen. Toleranz ist tradierte Lebenspraxis, da kann man nichts herbeizaubern. Sieht man sich die vorliegenden Definitionen der kreativen Klasse einmal an, so fällt auf, dass sie rein soziologisch oder ökonomisch ausfallen. Aber genau an dieser Stelle kommt das strategische Problem.

Eine glatte, gesellschaftskonforme, affirmative Kreativität ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Das erinnert an das Idealbild einer Frau bei manch armem Tropf, der die schönste, klügste, selbstbewussteste Frau der Welt in seinem Hirn entstehen lässt, die natürlich treu und gehorsam sein soll. Kreativität ohne Rebellion gegen Tradiertes, ohne Konfrontation mit dem Bestehenden und ohne Opposition gegen das Gesetzte kann und wird es nicht geben. Und nur dann, wenn der Umgang mit diesem auch politisch unbequemen Phänomen gelingt, entsteht eine Sphäre der Toleranz.