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„Es geht um Raum und Zeit!“

Viel ist davon die Rede, dass es um sehr viel geht. In derartigen Situationen ist es ratsam, sich zu orientieren. Zunächst einmal sollte die Frage im Mittelpunkt stehen, worum es eigentlich geht. Vielen fallen da gleich eine Menge Themen ein, die genannt werden. Wir alle haben es gehört, es geht um soziale Gerechtigkeit, es geht um Infrastruktur, es geht um Klimawandel, es geht um Bildung, es geht um Krieg und Frieden, es geht um Menschenrechte. Das alles wird von der einen oder anderen Partei als Ziel für sich reklamiert und viele Menschen fühlen sich in vielem überfordert: in der Präferierung der Themen, in der Auswahl der Partei und immer mehr auch bei der Überlegung, ob das hiesige politische System eigentlich in der Lage ist, mit all den komplexen Fragestellungen, die durch ein rasantes Entwicklungstempo immer schneller immer neue Fragen aufwerfen, adäquat zu reagieren.

In einem solchen Augenblick ist es ratsam, einen Schritt zurückzutreten. Nicht im räumlichen Sinne, sondern im Hinblick auf die zu betrachtenden Faktoren. Distanz ist, nur soviel am Rande, immer eine gute Ratgeberin. Und manchmal ist es auch hilfreich, das Metier zu wechseln. Raus aus der Politik, und hinein in ein anderes Lebensfeld, das als durchaus komplex zu verstehen ist und sich durch viele Analogien zum gesellschaftliche Gesamtleben auszeichnet.

Ich weiß nicht warum, aber mir fiel in den letzten Tagen bei der Erörterung der Lage immer wieder ein von mir als legendär bezeichnetes Interview ein. Am Vorabend des Finales der Fußball-WM 2014 in Brasilien, bei dem Deutschland auf Argentinien treffen sollte, hatten sich Reporter in einem Café in Buenos Aires mit El Flaco, dem Dünnen, getroffen. Caesar Louis Menotti, der ehemalige Nationaltrainer Argentiniens, der die Mannschaft 1978 zur Weltmeisterschaft geführt hatte, traf sich mit deutschen Reportern in seinem Lieblingscafé und stand zu einem kurzen Interview bereit. Als ihn die Reporter fragten, worauf es denn am folgenden Tag in erster Linie ankomme, hatte er geantwortet, es käme darauf an, worauf es immer ankomme: es ginge um Raum und Zeit.

Nicht umsonst wurde Menotti in seinem Land gerne auch als der Philosoph bezeichnet. Und, angesichts seiner Äußerung gegenüber den deutschen Sportreportern, die allerdings mit der Antwort nich viel anfangen konnten, bestätigte er seinen Ruf. Denn, um zurück zur Ausgangsfrage zurückzukommen, die Frage von Raum und Zeit ist, angesichts der vor uns allen liegenden brennenden Fragestellungen, nicht nur von essenzieller Bedeutung, sondern die Frage überhaupt.

Manche aus dem professionellen politischen Lager spitzen ihre Argumentation denn auch konsequenterweise auf diese Fragestellung zu. Wieviel Zeit bleibt, um bestimmte Probleme zu lösen und wie groß sind die Handlungsspielräume, um in dem verbleibenden Zeitrahmen noch etwas zu bewältigen? Das gilt für das Phänomen des Klimawandels genauso wie für die soziale Frage. Wie lange, so könnte man sich fragen, hält der Rahmen, in dem wir uns mental wie physisch bewegen, bis er bricht? Und was kann in dem Zeitraum, der zur Verfügung steht, bewirkt werden? Und wem traue ich zu, dass er als politischer Faktor sowohl den Raum als auch die Zeit am besten nutzt?

Mir hat Caesar Louis Menotti mit seiner Antwort sehr geholfen. Es geht um Raum und Zeit. Wie immer im Leben. Das ist das ganze Geheimnis.

Ordnung und Freiheit

Es gibt Wirkungskorrelationen im Leben, die gehören nicht unbedingt zu den Geheimnissen der Gattung Mensch. Und, das ist das Beruhigende, zumeist sind diese Wirkungszusammenhänge sogar so stark, dass sie unterschiedliche Kulturen und Sozialisationsformen überstrahlen. Sie gelten nahezu überall auf der Welt. Und dennoch: was da wirkt, wird immer wieder im Spiel der Macht und der jeweiligen Führung nahezu systematisch verkannt. Und auch diese Verkennung im Alltagsgeschäft von Herrschaft hat etwas Supra-Kulturelles. Die Herrschenden in Ost und West, im Norden wie im Süden scheinen allesamt, je länger sie Ämter innehaben, die Intuition über Fühlen und Denken derer zu verlieren, mit denen sie es zu tun haben. Das sollte bei Konzeptionen für alternative Formen der gesellschaftlichen Geschäftsführung im Gedächtnis bleiben. Genauso wie die schmerzhafte Erkenntnis, dass die Regierten nicht selten die Regierenden dazu drängen, diese so wichtige Intuition zu verlieren oder zu missachten.

Worum geht es? Bei jeder Form der Regierung geht es, wie bei allem andern im Leben, um Zeit und Raum. Eine Regierung verfügt über ein bestimmtes Zeitkontingent, innerhalb dessen sie sehr viel Raum besitzt, um das zu verwirklichen, was sie sich vorgenommen hat. Daran wird sie gemessen. Das Versprechen, ob frei gegeben oder den anderen aufgezwungen, ist das Maß, welches die Regierten anlegen, wenn sie die Herrschaft beurteilen. Haben die Regierenden das erreicht, was sie sich vorgenommen haben? Und wenn ja, inwieweit korreliert das mit den Interessen der einzelnen Individuen und Gruppen? Bei einer Enttäuschung der Mehrheit ist das Urteil relativ leicht gefunden. Geht dieses Spiel lange und bietet sich keine Alternative zu der etablierten Form von Herrschaft, dann beginnen die Regierten nach anderen Optionen zu suchen. Wer unter Druck steht, kann zu unüberlegten Handlungen neigen, was in der Regel von den Regierenden als struktureller Mangel der Regierten diffamiert wird. Auch da wird der Wirkungszusammenhang ausgeblendet.

Eine andere Variante ist die Korrelation von Sicherheit. Ordnung und Freiheit. Der Ruf nach Sicherheit und Ordnung wird immer dann laut, wenn die Zeiten stürmisch sind. Es sind immer die, die etwas zu verlieren haben. Das sind die, die strukturell von dem gesamten System profitieren, es sind aber auch andere, die mit ihrem kleinen individuellen Glück überleben wollen. Letztere seien nicht diskreditiert. Das Wesen des Menschen wird bestimmt von einer grundlegenden Korrelation, die Sicherheit, Ordnung und Freiheit betrifft: Die Akzeptanz von Ordnung korreliert mit dem Grad von Freiheit, der dafür auf dem Spiel steht. Dieser Satz sollte über jedem Gebäude stehen, in dem öffentliche Belange verhandelt werden. Ob es hülfe, weiß man nicht, aber es wäre so etwas wie ein dringlicher Hinweis auf die Geschäftsbedingungen.

Und nun, dieser lapidaren Erkenntnis gewärtig, lehne sich jede und jeder einmal zurück und lasse die Regierungsgeschäfte im eigenen Land und in der eigenen Stadt unter dem Aspekt von Zeit und Raum auf sich wirken. Wurde die Ordnung verbessert? Mussten dafür Freiheiten geopfert werden? Ist die Sicherheit, die von der Ordnung erwartet wird, größer geworden? Hat der Verlust von Freiheit weh getan? Oder anders herum, welche Freiheiten sind hinzugekommen? Und wenn ja, welche sind es?

Sollte die Bilanz so ausfallen, dass die Ordnung immer weiter expandierte und die Freiheit immer weiter zurückgedrängt wurde, dann, das ist sicher, beginnt notwendigerweise die Suche nach einer grundlegenden Alternative. Ob verzweifelt oder nicht. Wenn die Ordnung in alle Lebensritzen dringt, dann meldet sich die Freiheit! 

Die Stunde des Mikrokosmos

Persönliche Strategien können helfen. Zuweilen muten sie an wie Knastprogramme in exklusivem Umfeld. Eine durchdachte Diät, körperliche Ertüchtigung und feststehende Routinen. Das hilft, ist aber nur die Hälfte des Himmels. Alleine überleben die wenigsten. Was der Mensch braucht, ist soziale Interaktion und Gemeinschaft. Wem das komplett entzogen wird, der oder die kann sich kaum halten. Dass nun, als Folge einer längeren sozialen Isolation viele Gemüter nahezu explodieren, ist nicht unbedingt ein Grund zu völliger Überraschung. Einer forcierten Unterdrückung von Bedürfnissen – unabhängig davon, aus welchen Motiven sie veranlasst wurde  – folgt irgendwann die Gegenbewegung. Selbst bei dem Phänomen des Amok ist es, in seiner geographischen Ursprungsregion, das ewige und eisern herrschende Gesetz der Mäßigung, das die Menschen irgendwann in einen Zustand des Allesaußerkraftsetzens katapultiert. 

Der Umgang mit den Ausbrüchen der unterdrückten Regung zeigt, ob ein Verständnis für die Ursache vorliegt oder nicht. Doch unabhängig davon ist die entscheidende Frage, wie, neben den eigenen persönlichen Überlebensstrategien, die Gemeinschaft aussehen muss, die es ermöglicht, auch unter erschwerten Bedingungen zu lebenswerten Perspektiven zu gelangen. Der Begriff der Schicksalsgemeinschaft ist in vieler Hinsicht überfrachtet. Zudem bezieht er sich auf die negative Ausgangslage. Gemeinschaften, die sich darüber definieren, dass sie eine konkrete Gefahr überstehen, verlieren ihre Grundlage, wenn diese überstanden ist. Dann fallen sie auseinander. Wenn der Krieg vorbei ist, dann ist er vorbei und jeder geht seinen eigenen Weg.

Anders ist es, wenn nicht gesagt werden kann, wie lange ein bestimmter Zustand anhalten und ob er sich jemals ändern wird. Viele Faktoren des aktuellen Panoramas deuten darauf hin, dass vieles, das sich auf Infektionsmöglichkeiten bezieht, durchaus sehr lange so bleiben kann. Und noch mehr Erscheinungen suggerieren, dass sich vieles auch in gesellschaftlich-struktureller Hinsicht verändern wird. Ob da irgendwann irgendwer wieder seiner Wege geht, wie wir es aus der Erinnerung kennen, kann sich als frommer Wunsch entpuppen. Vieles spricht für eine verstärkte Notwendigkeit von Gemeinschaften, die gewaltige Stürme zu überstehen vermögen.

Der Vorteil einer intakten Gemeinschaft, einer Vereinigung, eines Kollektivs, eines Bundes, oder wie es immer auch genannt werden mag, besteht in der Fähigkeit der gegenseitigen Unterstützung, Hilfe und Stabilisierung. Das klingt vielen aus der Epoche der Hyperindividualisierung, die hinter uns liegt, sehr fremd. Sind die Zeiten jedoch so, wie beschrieben, d.h. sind die sie prägenden Ereignisse nicht als Episode zu apostrophieren, sondern haben sie das Potenzial für eine lange Dauer, dann reicht es als Grundlage zur Beschreibung nicht aus, das aktuelle Phänomen, das alle bedroht, quasi als programmatische Grundlage für die Gemeinsamkeit zu nehmen. Dann ist ein großer Sprung gefordert, und er muss visionäre Züge haben.

Um Missverständnissen vorzubeugen: es muss nicht expressis verbis um gesellschaftliche Visionen gehen, sondern es muss eine ideale Vorstellung davon existieren, wie sich die gefundene Gemeinschaft, heute, im Hier und Jetzt, idealtypischer Weise konstituiert. Und es klingt einfach, ist aber schwer zu machen. Die einzelnen Glieder müssen sich mit Respekt begegnen, sie müssen sich vertrauen und sie dürfen nicht glauben, zu wissen, wohin die Reise geht. Solidarität im freien Fall, so könnte es beschrieben werden. Das klingt halsbrecherisch, erscheint aber eine wichtige Dimension zu sein, die zum Erschließen einlädt. Und sie unterscheidet sich in gravierender Weise von den ganzen punktuellen, zweckrationalen Bündnissen, die momentan zu tausenden havarieren. 

Wir leben in der Stunde des Mikrokosmos. Ihn zu gestalten, ist eine gewaltige Chance. Nie war mehr Raum. Und wer jetzt zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wieder einmal?