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Public Spirit

Immer wieder ist die Skepsis zu verspüren, wenn darauf  hingewiesen wird, dass das Studium der Geschichte eine sinnvolle Unternehmung zum Verständnis des Gegenwärtigen ist. Der Zeitgeist scheint ahistorisch zu sein. Oder zumindest sein zu wollen. Denn alles, was das jetzige Dasein erhellt, ist anscheinend gefährlich. Die Argumente, die skeptisch gegenüber möglicher Erkenntnis aus historischen Betrachtungen vorgebracht werden, sind zum Teil sogar richtig. Dass sich Geschichte nicht wiederholt, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, dass sich an ihr Protagonisten immer wieder orientieren, ist gesichert. Zum Beispiel Erdogans Vorgehen in den letzten zwei bis drei Jahren entstammt Eins zu Eins dem Regiebuch der NSDAP bis zur Machtergreifung. 

Wüssten die Betroffenen das, könnten sie anders mit den konkreten politischen Handlungen umgehen. Genauer hinsehen lohnt sich, und oft entpuppt sich die Zeitgeschichte dann auch als etwas gar nicht mehr so Großes, wie zumeist verkauft oder gefühlt. Marxens Wort, weil es so schön ist, sei da noch einmal in Erinnerung gerufen. In der Geschichte, so schrieb er, passiere alles zweimal: Einmal als Tragödie und einmal als Farce. Da fallen einem dann sehr viele Beispiele ein. Epigonen haben es einfach schwerer als das Original.

Doch zur eigentlichen Überlegung! In der letzten Nacht stieß ich in einer historischen Abhandlung auf ein Kapitel über das Berlin der 1820iger Jahre. Die Lage wurde so beschrieben, dass ich plötzlich hellwach war. Ganz Europa war im Umbruch, in Frankreich hatte es eine Revolution gegeben, die immer noch nachwirkte, Napoleon hatte seinen Code Civil militärisch exportieren wollen und war in Russland gescheitert. Aus der Bewegung gegen den sozialrevolutionären Imperialismus Frankreichs hatte es auch in Preußen eine starke Emanzipationsbewegung gegeben. Das preußische Regime lavierte, vieles schien sich aufzulösen, aber es gab eine Stimmung des Aufbruchs. Die alte Welt war passé und Hegel verbreitete seine These, dass die Revolution die Verkörperung der göttlichen Idee sei. 

In diesem Kontext sprach man in Berlin von einem Public Spirit, der alles beflügele und dominiere.  Obwohl sich vieles von dem, was existierte, auflöste, dominierte eine gute Stimmung. Denn das Alte war Enge, Regulierung, Unterdrückung und Zensur. Daraus ergab sich ein trotz wachsender Repression seitens der Behörden immer freier wirkender emanzipatorischer Diskurs. Ohne ihn wäre die Geschichte nicht nur anders verlaufen, ohne diesen hätte es auch nicht das Gedankengut gegeben, das bis heute bei vielen Überlegungen zur Emanzipation eine Rolle spielt. 

Es geht nicht um Details. Es geht um den Rahmen. Es geht darum, dass der Terminus des Public Spirit, vielleicht auch kein Zufall, dass er aus dem Englischen für das zu Beschreibende entlehnt werden musste, dass dieser Terminus eine positive Grundstimmung beschrieb. Eine Stimmung, die Vorschläge zur Veränderung positiv aufnahm und empfehlend herumreichte. Das war im modrigen Soldatenstaat ebenso neu wie in den intellektuellen Salons und es setzte Kräfte frei, von denen kaum jemand geglaubt hatte, dass sie existierten. Der Public Spirit dieser Zeit lebte von dem Konsens, dass das Bestehende keine allzu große Zukunft mehr hatte und dass das Neue etwas Gutes, Erstrebenswertes sei. Was allerdings dazu beitrug, war die sich schnell verbreitende dialektische Denkweise. Nach ihr geht das Gute aus dem Vergangenen in dem Neuen auf und nicht unter. Von Verlustdenken waren die Vordenker einer neuen Emanzipationsepoche nicht beschwert.

Und da wären wir bei den Verhältnissen unserer Tage angekommen. Vielleicht, um den miteinander konkurrierenden Katastrophenszenarien Rechnung zu tragen, wäre der existierende Public Spirit als die große Depression zutreffend zu beschreiben. Das klingt, um sich eine gute Prognose auf die Zukunft aufstellen zu wollen, alles andere als gut. Das Alte, das sich als avanciert und modern ausgibt, allerdings Ergebnisse erwirtschaftet, die so nicht mehr akzeptabel sind, hat seine Existenz in dieser Form verwirkt. Nur, und da ist das historische Beispiel sehr hilfreich, etwas positives Neues lässt sich nur aus einem Public Spirit entwickeln, der ebenso positiv ist wie die erdachte Perspektive. Gelingt dieses nicht, bleibt es bei der Tragödie, oder, seien wir ehrlich, es reicht vielleicht nur zur Farce, bei allem, was die Geschichte aufbereitet hat zu Fragen der Emanzipation.