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Ein morbider Tanz um den Heiligen Gral der Börse

Martin Scorsese. The Wolf Of Wall Street

Hollywood-Produktionen lösen beim kritischen Publikum nicht zu Unrecht Zweifel aus. Cineastische Werke, deren Herstellungsbedingungen industriell sind und deren Zweckbestimmung die Massenvermarktung ist, tragen schwerlich revolutionäre oder kritisch enthüllende Botschaften mit sich. Es gibt nur wenige Protagonisten im Ensemble Hollywoods, die es mit einem eigenen Label so weit gebracht haben, dass sie sich den Gestus des Epatez-le-Bourgeois leisten können, ohne dass die notwendigen potenziellen Investoren von vornherein die Rote Karte zeigten. Martin Scorsese ist so einer. Ihm verdankt das weltweite Publikum Filmproduktionen, die nicht mit affirmativer Ideologie langweilen, schlecht gemacht sind oder in der Belanglosigkeit versinken. Martin Scorsese steht für den Schock, er steht für Action und geniale Komposition von Bild und Musik.

The Wolf Of Wall Street ist sein neuestes Produkt. Mit der für Hollywood typischen Marketingmaschine angekündigt und einem Namen, der den Nerv des Zeitunbehagens trifft, greift Scorsese mit Jordan Belfort eine tatsächlich historische Figur auf, die in den achtziger Jahren mit ihren unkonventionellen Methoden die Wall Street aufmischte und Furore machte. Ein Mann aus der Working Class entschied sich, Broker zu werden, machte am ersten Tag nach seiner Zulassung mit dem ganzen Laden Pleite und dealte sich danach aus einem Garagenunternehmen mit Penny Stocks nach ganz oben, bis er den Neid der Konkurrenz und das wachsame Auge des FBI auf sich zog und der kometenhafte Aufstieg in mächtige Turbulenzen geriet.

Im Grunde ist es das, was der Film erzählt. Insofern nichts Neues und kaum der Rede wert, wäre da nicht die Art und Weise, wie es Scorsese erzählt und Leonardo DiCaprio darstellt. Das kongeniale Arrangement zielt mit Präzision und Tempo auf die Psychodynamik der Akteure des Wertpapierhandels, der tatsächlich in den achtziger Jahren einem Wandel unterlag und sich endgültig abkoppelte von einer tendenziell vorliegenden Prognostik für die Entwicklung realer Werte zu einer illusionsgesteuerten Machtphantasie, mit der gehandelt werden kann. In diesen Kreisen geht es um die Macht, und nur um die Macht. Hin und her geschobene Geldwerte bilden nur noch den Schmierstoff für die Beschaffung der Trieb eskalierenden Mittel zur Realisierung der Allmachtsvisionen. Das, was sich in den immer größer werdenden, in immer edler gelegenen Stockmärkten des Jordan Belfort abspielt, ist ein einziges Happening, ein höllisches Gesamtkunstwerk aus Kokain, Alkohol, Psychopharmaka und Prostitution. Belfort, der König der Broker ohne Werte, belohnt seine Krieger mit archaischen Riten des Überflusses und der Verschwendung. Ihre Macht beschränkt sich auf Geld, Rausch und Verfügbarkeit über den Sex, befeuert und immer wieder angetrieben werden sie von einer Rhetorik totalitärer Qualität.

Die routinemäßigen Ansprachen Belforts vor seinen Brokern allein sind es Wert, sich den Film anzusehen. Sie sind in ihrer charismatischen Qualität genial, in ihrer Vernichtung sozialer Werte diabolisch. Er appelliert an den archaischen Instinkt der Macht und ihm gelingt es, aus Hinterhoffuzzis regelrechte Killermaschinen zu machen. Belforts Reden sind Oden an die Kraftzentren der Macht und des Wahns, sie treiben eine koksfüsilierte Horde auf die Expropriationsbeutezüge gegen den solide erwirtschafteten Wert. Grunzend und sabbernd geht die Meute auf die Einfaltspinsel los, die so naiv sind, für ihr Auskommen überhaupt noch zu arbeiten. Und der Wolf wäre kein Artefakt Scorseses, wenn nicht immer wieder Passagen wie Smokestack Lightning von der Urgewalt des bluesigen Howlin‘ Wolf zu hören wären und klirrende Gitarrenriffs den morbiden Tanz um den Heiligen Gral der Börse begleiteten. Nein, das ist nicht abgedroschen, das ist wirklich großes Kino.

Balzac: Der Preis des Scheiterns

Wolfgang Pohrt: Honoré de Balzac. Der Geheimagent der Unzufriedenheit

Wie immer: Das Klischee steht! Der Bonvivant mit dem Doppelleben sitzt in einem Nachthemd ähnlichen Bekleidungsstück neben einer Kanne Kaffee und schreibt. Er schreibt Romane über die Reichen und Schönen, aber auch die Armen und Vergessenen in Paris, der Welthauptstadt des 19. Jahrhunderts. So hat die bürgerliche Literaturkritik den wohl schärfsten Chronisten des neu aufkommenden Kapitalismus zu einem romantischen Idyll herabgewürdigt. Dabei existieren in der Literatur bis zum heutigen Tag keine bestechenderen Bilder über das Wesen der Vermarktung des Geistes, über den Zusammenhang von Literatur und Anzeigenbetrieb, über den Konnex von Feuilleton und Ökonomie. Nicht, dass Honoré de Balzac ein larmoyanter Kritiker der wirtschaftlichen Wirkungsweisen der neuen bürgerlichen Gesellschaft gewesen wäre: Er spielte mit, er war ein harter Zocker und niemand hat so gnadenlos mit Literatur spekuliert wie Balzac selbst.

Jenseits der flauen Literaturkritik, die sich die Nachwelt gegenüber der gigantischen Comedie Humaine, einem Romanzyklus, der als Vorlage für heutige Serien wie die Sopranos, Homeland oder Boardwalk Empire gedacht werden muss, hat kein Rezensent das Ungeheuerliche Balzacs so erfasst. Bereits Anfang der achtziger Jahre konzipierte Wolfgang Pohrt sechs Essays als Radiobeiträge unter dem Titel Rückblick auf die Moderne für den SFB. Diese erschienen dann 1984 als Buch. In Honoré de Balzac. Der Geheimagent der Unzufriedenheit analysierte Pohrt das Werk Balzacs in einer Weise, die komprimierter nicht sein konnte und bis heute unerreicht ist.

Mit den Überschriften der sechs Kapitel, Unterhaltungskünstler und Geheimagent, Geld und Geist, Liebe und Geld, Journalismus und Halbwelt, Bildung und Zeitung sowie Moral und Erfolg sezierte der Autor Wirken und Schreiben Balzacs in den essenziellen Bezugsfeldern seines Lebens. Pohrts These, dass die bürgerliche Gesellschaft nie so schonungslos in ihrer Wirkungsweise offen gelegen habe wie im Paris der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, was mit Romanpassagen aus Balzacs Werk in verblüffender Weise untermauert wird. Vor allem die Schlüsselromane der Comedie Humaine, Verlorene Illusionen und Glanz und Elend der Kurtisanen, bieten ein Spektrum an Gesellschaftsanalyse in den profanen Dialogen, die so und in dieser Form nie wieder erreicht wurde.

In einer genial verfassten Rekonstruktion des Gesellschaftskosmos der Comedie Humaine dechiffriert er die Botschaften des Marktes an die Ethik der neuen Epoche. Die hehre Literatur entpuppt sich als Spekulationsobjekt, die Spiritualität der neuen Gesellschaft wird aus Edelmetallen generiert, die Trugbilder der käuflichen Liebe wirken reizvoller als die Wirklichkeit, die lasterhafteste aller Prostituierten ist die öffentliche Meinung, das Wort Bildung ist eine Chiffre für Belanglosigkeit und das Scheitern, der Tod, ist die treffendste Metapher für die Realität. Wolfgang Pohrt wäre nicht Wolfgang Pohrt, wenn er gerade dem letzten Diktum nicht besondere Bedeutung beimessen würde und sie nutzte zur Würdigung Balzacs.

Der Mann, der gegen Vorschüsse seine besten Romane verschleuderte, der immer im Soll war und in zwanzig Jahren 120 Romane unter verschiedenen Namen produzierte, der nachweislich bis zu 50 Tassen Kaffee am Tag trank und sich die letzten Inspirationen mit der Opiumpfeife entlockte, war die Metapher schlechthin für den Literaturbetrieb unter kapitalistischer Produktionsweise geworden. Und er löste es immer wieder ein. Sein früher Tod war der Tribut an die schrankenlose Selbstausbeutung und die unstillbare Gier nach Wohlstand und Macht. Aber Balzac wußte um den Preis, über den er sich nicht beklagte. Wolfgang Pohrt hat diese großartige Figur des europäischen Realismus entstaubt und präsentiert sie in mattem, brüchigen Glanz.