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Dividende sind keine ethische Kategorie

Die offiziellen Positionen einzelner Regierungen oder Staaten zu bestimmten Fragen der Weltpolitik sind in der Regel hinreichend bekannt. Sie dienen dazu, eine Art Logbuch der eigenen Außenpolitik zu erstellen. Auch wenn es kein grundsätzliches Programm dafür geben sollte, was leider zunehmend überall auf der Welt der Fall ist, so kann dennoch anhand der einzelnen Positionen zu unterschiedlichen Fragen gleich einem Puzzle so etwas wie ein Bild erstellt werden, das aufschlussreich ist. Fügt man ein Mosaik an das andere, wird sehr deutlich, wo die Prämissen liegen und wo es sich um nichts als Rhetorik handelt. 

Im Falle der Bundesrepublik Deutschland ist das so. Statt eines geschriebenen Programms existiert nur eine relativ abstrakt gehaltene Überschrift mit dem Titel. „Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen!“ Was das heißt, kann relativ schnell in der beschriebenen Methode rekonstruiert werden:

In Europa, genauer der EU, wird eine Führungsrolle übernommen, die sich vor allem auszeichnet durch Positionen zum Schutz der eigenen Industrie, zur Durchsetzung günstiger Marktbedingungen für diese und zur so genannten Sanierung von Staatsfinanzen analog zu den Maximen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, sprich einer marktliberalen und staatsrestriktiven Attitüde. Unter diesen Prämissen tritt die Bundesregierung für die stetige Erweiterung der EU ein, vor allem auf dem Balkan und Richtung russischer Grenze. Dabei schreckt sie selbst nicht vor Völkerrechtsbruch zurück, während sie es bei anderen anprangert. In Fragen des Nahen Ostens und der aus dem komplexen Gebilde resultierenden Allianzen hat sich die Bundesregierung bis jetzt an die Allianzen der USA angedockt, obwohl es zunehmend Inkongruenzen gibt. Es heißt aber, die gleichen Interessen bei den Umsturzgedanken wie in den Fällen Libyen und Syrien mitgetragen zu haben, auch wenn der Grad der militärischen Intervention variiert. Die Belieferung „Verbündeter“ wie Saudi Arabien mit hochbrisanten Waffen gehört dazu. 

Insgesamt könnte das Programm der größeren Verantwortung beschrieben werden als eine imperiale Führerschaft innerhalb des geographischen Gebildes Europas beschrieben werden. Nicht imperial ist dabei die Art und Weise der Kommunikation. Rom wie Washington haben immer dargelegt, was in ihrem Interesse ist und was nicht. Das ging, aufgrund der eindeutigen Machtverhältnisse, jeweils immer ohne Schminke, auch wenn Prosa wie Narrative ausreichend vorhanden waren. In dieser Position ist die Bundesrepublik nicht. Was wäre zu erwarten, wenn eine Kanzlerin sehr deutlich die Interessen formulieren würde, für die sie tatsächlich eintritt?

Wahrscheinlich bräche im In- und Ausland ein Sturm der Entrüstung los, weil das Land mit dieser Geschichte das nicht machen darf. Die Verantwortlichen für die zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert, die zweimal nach der Macht griffen, dürfen anscheinend nie wieder formulieren, dass sie Märkte, Rohstoffe und Wege brauchen, um ihr Gemeinwesen – natürlich auf Kosten anderer – blühen zu lassen. Was die Wahrnehmung und psychische Disposition den USA als altem Imperium erlaubt, würde im Falle Deutschlands zu Empörung pur führen.

Stattdessen und weil es so ist, verfällt die hiesige Regierung in die Sprache des Feldes, auf das sie nach den verlorenen Kriegen verließen worden war. Sie redet über Moral und arbeitet sich ab an dem nicht zu vollbringenden Kunststück, Imperialismus via Moral zu vermitteln. Letzteres misslingt immer mehr und hat zu einer Staatskrise geführt. Ein wachsender Teil der eigenen Gesellschaft glaubt nicht mehr an die Worte, die knallharte Interessenpolitik vermitteln sollen. Und damit hat er Recht. Dividende sind keine ethische Kategorie.  

Wer die Macht will

Wer Wahlen gewinnen will, muss klar sein und Klarheit vermitteln. Und es darf nicht an Selbstbewusstsein fehlen. Wer herumdruckst, hat bereits verloren. Das Zaudern können sich die Mächtigen leisten, diejenigen, die die Macht wollen, müssen entschlossen und schnell sein. Sie müssen konkret werden hinsichtlich der eigenen Pläne. Zu hohe Abstraktion ist schädlich, zu viel Detail auch. Viele im politischen Milieu sind auf dem falschen Kurs. Sie sorgen dafür, dass sie niemand mehr ernst nimmt. Mit Micro-Targeting kann man Stimmen gewinnen, aber nicht die Macht. Denn die Macht ist eine Energie, die verknüpft werden muss mit der Bereitschaft, sie auch einzusetzen. Indem jedem alles verspochen wird, verkommt die Politik zu einer Lotterie, in der letztendlich immer die Gleichen gewinnen. Und das ist für den Rest reichlich öde.

Wenn es darum ginge, die jetzige Politik abzulösen, dann reicht es nicht, das Bestehende zu kritisieren. Es bedarf eines klaren Kurses, wie das denn aussehen soll. Es scheint, als hätten die Akteure nicht den Schneid, ein Programm zu formulieren, das doch klar auf dem Tisch liegt. Es wäre doch keine Revolution zu sagen, dass die Löhne in diesem Land endlich wieder steigen müssten. Es wäre ebenfalls völlig normal, die gewaltigen Überschüsse dazu zu verwenden, in Bildung wie Infrastruktur hierzulande wie im Rest Europas zu investieren. Es wäre keine Überraschung zu sagen, die NATO-Osterweiterung sowie die Abenteurerkriege im nahen und mittleren Osten nicht mehr mitzumachen und sich stattdessen darum zu kümmern, Streitkräfte zu haben, die tatsächlich in der Lage sind, das eigene Land zu schützen und Punkt. Und es wäre ein vernünftiges Ziel, nicht mehr von Werten, sondern von den eigenen Interessen reden zu wollen. Welche Werte hinter den Interessen stehen, wird sehr schnell deutlich werden.

Die Liste ist fortsetzbar und sie wirkt profan. Viele Ursachen des gegenwärtigen Unbehagens sind damit aber benannt. Was fehlt, ist ein Bekenntnis, mit einem solchen Programm die Macht erobern zu wollen. Das geht in diesem Land über Wahlen. Daher ist es sehr einfach, zu erkennen, wer von den konkurrierenden Parteien tatsächlich eine Veränderung im substanziellen Sinne will und wer sich lediglich um Nuancen ein und derselben Politik kümmern will. Es ist aber Zeit für einen Wechsel.

Vieles spricht dafür, dass diejenigen, die eine Kontinuität der bestehenden Politik wollen, auf den nützlichen Schatten der neuen Rechten verweisen, um die Stimmen der Kritik zu erhalten, die durchaus demokratischem Denken entsprechen. Das wäre typisch Deutsch. Das so genannte kleinere Übel. Aber es wäre nicht europäisch, denn der Aufschwung der Linken ist im Süden Europas in vollem Gange. Die Fokussierung auf die Rechte soll die Aufmerksamkeit auf diese Gefahr konzentrieren, aber davon abhalten, nach Alternativen zu suchen. Bis jetzt klappt das gut, es ist aber falsch.

Wer die Macht will, muss das artikulieren. Wer die Macht will, darf nicht bei der Kritik am Bestehenden stehen bleiben. Wer die Macht will, muss sagen, was er anders machen will. Und wer die Macht will, braucht Bündnispartner. Auch international. Es ist ganz einfach. Wer nicht sagt, was er anders machen will, der will das Amt, aber nicht die Macht, um zu verändern. Und wer sich nicht mit denen zusammen tut, denen das bereits gelungen ist, der will aus ihrer Erfahrung auch nicht lernen. Ein scharfes Auge ist besser als ein trüber Blick.

Die kritische Schwelle

Die Übung ist nicht neu. Ganz im Gegenteil. Die Geschichtsbücher sind voll von dem Versuch, grundsätzlich etwas ändern zu wollen. Von Mitgliederorganisationen über Wirtschaftsbetriebe, von Verwaltungen bis zum Staat gab und gibt es immer wieder Vorhaben, das ganze Gebilde von Grund auf zu ändern. Und so viele Geschichten es darüber gibt, so häufig enden sie mit dem Fazit des Scheiterns. Übrig bleibt in der Regel das Bedauern über die gute Idee, von der alles ausging und die Enttäuschung darüber, an welchen Faktoren es auch immer gelegen hat, dass das ganze Unterfangen nicht von Erfolg gekrönt war. Die Bücher sind voll von solchen Geschichten. Und sie scheinen zu bezeugen, dass Menschen in großen Organisationen eine zu hohe Konzentration der Fehlbarkeit sind.

Der klassische Weg, dem die Unternehmungen der grundlegenden Veränderung folgen, besteht in einer Abfolge logischer Schritte, die kaum jemand anzweifelt. Zu Anfang steht immer eine Strategie, sie beschreibt, wohin das alles führen soll. Es wird ein Idealzustand beschrieben, der vieles von dem positiv gelöst haben wird, unter dem zum Zeitpunkt seiner Formulierung viele leiden. Da Strategien auf einer Metaebene beschrieben werden, sind sie abstrakt und sie lassen es folglich zu, das vieles von dem, was man gerne hätte, der Phantasie derer überlassen bleibt, die sich mit ihr befassen. 

Folgerichtig muss aus der Strategie ein Programm abgeleitet werden, dass sowohl die zeitlichen Abläufe konkretisiert als auch die einzelnen Maßnahmen beschreibt, die ergriffen und realisiert werden müssen, um erfolgreich zu sein. Die Maßnahmen wiederum bedürfen bestimmter Mittel, um sie realisieren zu können. Das sind dann, neben den erforderlichen Finanzen, Methoden und Instrumenten, ohne die eine Realisierung unmöglich ist, in denen sich die Richtung manifestiert. Das alles ist bereits ein sehr beschwerlicher Weg, und je größer die Organisation, die verändert werden soll, desto beschwerlicher ist er. Denn alles passiert nicht in statischem Zustand, sondern zeitgleich zum normalen Verlauf der Geschäfte und Aufgaben, auf deren Erfüllung die Organisation verpflichtet ist. 

Und selbst wenn der logisch unabdingbare Verlauf des Umgestaltungsprozesses von der Strategie über das Programm bis zu den Maßnahmen erfolgreich entwickelt worden ist, betritt er genau an diesem Punkt die kritische Schwelle. Zumeist erliegen die Akteure in diesem Moment der Mystifikation, der Wandel sei geschafft. Die Dinge existieren und haben einen Namen, aber sie wirken nicht. Sie wirken deshalb nicht, weil sie nun in das Stadium der Konkretisierung treten müssten. Es ist die beschwerlichste Etappe der Reise, weil nun das Erhabene in das Profane umgewandelt werden muss.

Was bedeutet die konkrete Verantwortung des Einzelnen, wie sieht die Praxis aus, der Sachbearbeitung, der Rechtsprechung oder der politischen Entscheidung? Genau an diesem Punkt versagt oft die Energie und genau an diesem Punkt schmerzt es am meisten, weil Einstellungen wie Verhalten zur Disposition stehen. Da versagt oft das Revolutionsvokabular, da geht es ans Eingemachte und gerade deshalb sind nicht selten die Protagonisten des ganzen Stückes nicht mehr dabei, weil sie sich in dem neuen Apparat längst etabliert haben, weil sie sich an die Macht gewöhnt haben und vielleicht auch weil sie erschöpft sind von dem langen Weg, der hinter ihnen liegt. 

Die kritische Schwelle einer erfolgreichen Umgestaltung lässt sich am besten beschreiben als der Punkt, der zwischen der Organisation des Wandels und dem Wandel der Organisation liegt. Sie zu überschreiten bedeutet Permanenz und Konkretisierung.