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Die neue Working Class und die Stabilität des politischen Systems

Die sich immer wieder abzeichnende Krise des gegenwärtigen politischen Systems wird nicht zu Unrecht auf einen Umstand zurückgeführt, der deshalb im öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle spielt, weil er dort nicht thematisiert wird. Es geht um das Schicksal eines großen Teils der Bevölkerung, der nicht mehr als Arbeiterklasse kategorisiert und seit den Zeiten des wilden Liberalismus als Prekariat zumeist mit einem Achselzucken bedacht wird. Die Zeiten, in denen eine gut organisierte Industriearbeiterschaft Tarifverträge aushandeln konnte, an die sich alle Unternehmen halten mussten, sind lange passé. Stattdessen entstand eine Art von Working Class, die in der Regel nicht von ihrer Arbeit leben kann, die vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten ist und die im politischen Diskurs nicht mehr wahrgenommen wird. Diese Work Force ist die große Unbekannte, die, sollte sie weiterhin ignoriert werden, zu dem Faktor werden könnte, der die Stabilität des Systems zertrümmert.

Die Autorin Julia Friedrichs hat sich bereits mit mehreren Publikationen zu den Resultaten der Epoche des Wirtschaftsliberalismus profund zu Wort gemeldet. Sie schrieb über die neuen Eliten wie über die Erben-Generation. In dem Buch „Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“ widmet sie sich dem beschriebenen Phänomen. Sie thematisiert das Schicksal derer, die hart arbeiten, die sparsam sind und über denen dennoch ständig das Damokles-Schwert des sozialen Ruins schwebt. In ihrem Buch begleitet sie einen Reinigungsgmann der Berliner U-Bahn, einen Schankwirt aus dem Souterrain einer Karstadt-Filiale, eine auf Honorarbasis arbeitende Musiklehrerin und einen alleinstehenden ITler. 

Um es gleich zu sagen: Working Class ist ein gelungenes Buch, weil es gut erzählt ist, was an den anschaulichen Geschichten der Protagonisten liegt und weil es dennoch zahlreiche, gut recherchierte Fakten enthält, die das Bild komplettieren. Das Resultat ist ein Kompendium über die sozialen Auswirkungen in der Konstitution des Arbeitsmarktes, die Grundlage vieler gesellschaftlicher Fehlentwicklungen in den letzten Jahrzehnten.

Besonders eindrücklich sind die Schilderungen der Effekte der Corona-Pandemie und der mit ihr verbundenen politischen Maßnahmen.  Julia Friedrichs verfolgt die verschiedenen Theorien von Volkswirten, die zunächst von einem U, dann von einem V sprachen und nun zunehmend ein K identifizieren. Damit ist die Wirtschaftsentwicklung im Kontext der Krise gemeint und wobei das U für einen drastischen Abstieg und nach einer gewissen Talsohle für einen rasanten Aufstieg steht, das V quasi die gleiche Entwicklung beschreibt, jedoch ohne nennenswerte Talsohle. Nur das immer mehr identifizierte K besagt, dass nach dem rasanten Abstieg eine Splittung erfolgt, nämlich den Verbleib im Ruin der ohnehin schon Gefährdeten und einen kometenhaften Aufstieg der bereits Saturierten beschreibt. Julia Friedrichs Gesprächspartner sprechen mit ihren Erfahrungen eindeutig für das K.

Die Autorin richtet in ihren immer wieder platzierten Schlussfolgerungen einen Appell an alle, die auf der sonnigen Seite der Straße stehen: den der Solidarität. Mit ihr verbunden die Notwendigkeit  einer Umverteilung, die es ermöglicht, von der eigenen Arbeit leben zu können und nicht im Alter auf die Wohltätigkeit anderer oder die Mülltonne angewiesen zu sein. Dass dieser Appell fruchtet, bezweifelt die Autorin allerdings immer wieder selbst. Es wird wohl sehr viel von der Working Class, die es immer noch gibt, selbst abhängen. Die Lektüre sei vor allem jenen empfohlen, die allzu gerne dem Narrativ folgen, die Working Class existiere nicht mehr. Was man im eigenen Lebensradius nicht sieht, muss noch lange nicht nicht-existent sein.  

  • Herausgeber  :  Berlin Verlag; 4. Edition (1. März 2021)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Gebundene Ausgabe  :  320 Seiten
  • ISBN-10  :  3827014263
  • ISBN-13  :  978-3827014269
  • Abmessungen  :  13.8 x 3.2 x 22 cm

Irgendwo im Morgengrauen

Hans-Christian Lange, An Ihren Taten Sollt Ihr Sie Erkennen. Ein Insider Entlarvt Die Neue Geld- Und Politikkaste

Eher durch Zufall stieß ich auf den Autor, der mir, muss ich gestehen, bis dahin nicht bekannt war. Ein Interview mit ihm in den Nachdenkseiten machte mich neugierig. Obwohl er als ehemaliger Berater aus dem Kanzleramt und als Manager in einem renommierten Automobilkonzern kein NoName ist. Was ihn vielleicht nicht in den Fokus interessierter Berichterstattung bringt, ist sein heute gewerkschaftliches Engagement und die damit verbundenen politischen Positionen. Hans-Christian Lange ist Mitbegründer der Band- und Leiharbeiter-Gewerkschaft Social Peace und unterstützte Sahra Wagenknechts Bewegung AUFSTEHEN. Insofern ist es dann doch keine Überraschung, wenn ein solcher Mensch sich mit den politischen und sozialen Fragen unserer Tage beschäftigt.

In seinem Buch „An Ihren Taten Sollt Ihr Sie Erkennen. Ein Insider entlarvt die neue Geld- und Politikkaste“ nimmt Hans-Christian Lange vor allem die so genannten Ein-Prozenter aufs Korn, jene plutokratische Minderheit von einem Prozent der Bevölkerung, die über mehr als die Hälfte des vorhandenen Vermögens verfügt. Das geht, vor allem aus deutscher Perspektive, nur mit einem Blick auf die verhängnisvollen 20iger Jahre des XX. Jahrhunderts, in denen sich die vermögende Elite von der neuen Staatsform und der Bevölkerung abkoppelte. Während die Eliten den Hals nicht voll bekamen und ihr Hunger sich auf andere Länder und Erdteile ausrichtete, darbten die Arbeitslosen und Geringverdiener im eigenen Land am Hungertuch und rannten tausendfach ins Verderben.

Allein bei der Beschreibung dieses hergestellten Zusammenhangs wird deutlich, wie sinnvoll der Blick zurück ist, um die, wie Lange sie nennt, neue Geld- und Politikkaste zu bewerten, die aus dem Prozess der Globalisierung entstanden ist. Während die Politikkaste im medialen Orkus auf der Schaubühne steht, arbeitet die plutokratische Kaste im Hintergrund an ihren Eroberungs- wie Fluchtplänen. Einerseits ist sie an der Vorbereitung und Durchführung von Kriegen um Ressourcen beteiligt, andererseits ahnt sie, dass ihr Treiben nicht gut ausgehen könnte und lässt sich Bunker mit den dazugehörigen Vorräten bauen und ausstatten, kauft entlegene Inseln und träumt von neuen Refugien auf fernen Planeten. Was Menschen mit normalen Arbeits- und Lebensbeziehungen als krank bezeichnen würden, ist deren Alltag. Insofern ist es gut und klug, den Blick auf diese zunehmend menschenverachtende Klasse zu richten und deren Treiben einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen

Unter dem Strich lässt sich sagen, dass die Globalisierung die Finanzeliten in Bezug auf das Gefühl gesellschaftlicher Verantwortlichkeit auf das elende Niveau lausiger Kompradoren in den Schwellenländern hat sinken lassen.

Langes Buch wäre ein guter Einstieg in die nächste Depression, berichtete er nicht auch über den sich in vielen westlichen Ländern formierenden Widerstand. Von den französischen Gelbwesten über us-amerikanische Massenstreiks bis zu neuen Bündnisse in Italien, Spanien, Portugal und, man sollte es nicht für möglich halten, Deutschland. Dass die de facto gleichgeschalteten Medien den Fokus nicht darauf richten, erklärt sich von selbst. 

„An Ihren Taten Sollt Ihr Sie Erkennen“ ist ein faktenreiches Buch mit in diesen Tagen ungewöhnlichen Blickwinkeln. Manchmal sind die Bezüge nicht unbedingt logisch, als Erhellung der dunklen Seiten von Elitetreiben und Widerstandsorganisation ist es ein wichtiges Buch. Wo sich die Zeiger auf der Uhr befinden, darüber lässt sich trefflich streiten. Aber irgendwo im Morgengrauen, und ein Sturm bahnt sich an. 

Wir sind alle Mörder!

Was bedeutet es, wenn das Elend, je weiter es von der betrachtenden Person entfernt ist, besonders berührt? Der darbende und entrechtete Mensch in der Ferne weckt tiefe Gefühle, während die Not vor der Haustür eisige Kälte erzeugt. Welcher Art sind die Handlungen, die aus einer solchen Absurdität erwachsen, oder, besser gefragt, welche Verhältnisse stecken dahinter?Was macht den Menschen so erratisch, dass er sich als sozial empfindet, wenn er die Vorgänge, die Not erzeugen, kaum beeinflussen kann? Und warum ist er imprägniert gegen Bedürftigkeit, wenn er sie förmlich riechen müsste? Das Phänomen, diese Beobachtung kommt verschärfend hinzu, ist nicht das Krankenbild vereinzelter Individuen, sondern ein Massenphänomen vor allem der deutschen Gesellschaft. Zumindest könnte man, quasi als mildernden Umstand gelten lassen, dass es überhaupt noch eine Regung gibt, die als soziales Gewissen klassifiziert werden könnte. Nur, und das ist wiederum ein belastender Umstand, nur weh tun darf es nicht.

Um eine steile These voranzuschicken: Das Verschwinden der Arbeiterklasse, zumindest als politisch handelndes Subjekt, hat dazu geführt, dass das, was als eine Opposition von unten bezeichnet werden könnte, nicht mehr vorhanden ist. Was blieb, ist eine aus der vor einem halben Jahrhundert stattgefundenen Jugendrevolte hervorgegangene Mittelschicht, die sich düster an ihre Anfänge erinnert, aber wirtschaftlich wie politisch nicht mehr agiert, sondern ihre posttraumatischen Schimären durch das Feuilleton jagt. und eine aus diesem sozialen Orkus hervorgegangener Brei politisch Unbewusster, die allen Ernstes glauben, sie könnten durch ihr Konsumverhalten die Welt ändern. 

Was bleibt, sind die, die unter dem Tisch liegen geblieben sind. Als Prekariat verhöhnt, sind es die, die das Gefühl des Hungers, das der Obdachlosigkeit und das der Würdelosigkeit sehr gut kennen, was den oben Beschriebenen nur aus Büchern bekannt ist. Zur Beruhigung aller, die an dem konservierten Stillstand verzweifeln, kann die statistische Gewissheit übermittelt werden, dass die Anzahl derer, die als sozialer Untergrund am besten bezeichnet werden, rapide steigt. Wer das nicht glauben mag, sehe sich die französischen Zustände an. Das, was dort an Widerstand gegen den Krieg des smarten Macron gegen die arbeitende Bevölkerung entstanden ist, kam von eben jenem sozialen Untergrund. Und wir wissen, warum wir davon so wenig gehört haben in der Öffentlichkeit. Diejenigen, die diesen Echoraum gestalten, fürchten einen Aufstand, wie er von den Gelbwesten begonnen wurde, wie den Tod. Und, ehrlich gesagt, das sollten sie auch.

Denn außer dem sozialen Untergrund scheint es keine politisch relevante Kraft mehr zu geben, die eine erfolgreich Veränderung bewirken könnte. Der Rest ist beteiligt an dem gewissenlosen Ausplündern der restlichen Welt. Im Monat März, so sagt man, hat die Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr ihren Anteil an der weltweiten Verpestung verbraucht, wenn man so rechnen wollte. Alles, was danach kommt, geht auf Kosten anderer. Und die smarten Protestler gegen dieses Phänomen laufen mit Smartphones herum oder skaten mit E-Rollern durch die Städte, zu deren Funktion und Antrieb Kinder in anderen Regionen der Welt in Kobalt- und Litium-Minen getrieben werden und um die bereits dreckige Kriege geführt wurden. Geht es noch? Diese Kohorte wagt es, von Werten zu schwadronieren und sich über das Unrecht in der Welt zu beklagen? Nein, das geht nicht mehr. Aus der Sicht derer, auf deren Zukunft die ästhetisch anmutenden Konsumdiskussionen stattfinden, wird jedes Verbrechen, das begangen wird, ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Da wird nichts mehr getilgt werden können. Das Spiel ist irgendwann aus. Alles kommt zurück. Frag sich nur, wann. Die Zeit, sich mit Alibis zu exkulpieren, ist abgelaufen.

Jean Paul Sartre, der viel Geschmähte, sei, weil er Franzose war, doch noch einmal zitiert. In Bezug auf sein eigenes Land und dessen Kolonialismus hatte er immer wieder entlarvt, wie sich das System des Kolonialismus, der Entmündigung und Ausbeutung Dritter, zu einem greifbaren Massenphänomen in dem kolonisierenden Land auswächst. Sartre kam zu dem schlichten Fazit: Wir sind alle Mörder!