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Sic Transit Gloria Mundi

In meiner Zeit in Südostasien, 12.000 Km entfernt von meinem eigenen Land, wurde ich immer wieder gefragt, wie denn die Menschen bei mir zuhause lebten. Es interessierte, welche Vorlieben sie hätten, wie sie wohnten, wo und wie lange sie arbeiteten und was sie verdienten, wie groß die Familien waren und ob sie zusammen lebten, was sie machten, wenn sie frei hätten, ob und welchem Glauben sie anhingen und ob sie ihr Land liebten. Von letztem, das muss dazu gesagt werden, gingen die Fragenden immer aus, denn sie selbst, Bewohnerinnen und Bewohner eines großen Landes, das vor allem eines gemeinsam hatte, nämlich eine dreihundertjährige  Kolonialgeschichte, für das sie, trotz vieler gravierender Probleme, immer ihr letztes Hemd gegeben hätten. 

Oft waren sie erstaunt, wenn ich mit einem Unterton der Kritik über Dinge berichtete, die ich als Fehlentwicklungen markierte, denn aus ihrer Sicht kam ich aus einem Land, in dem Milch und Honig floss. Wenn sie allerdings hörten, was von dem vielen Geld, dass die Deutschen aus ihrer Sicht verdienten, nach einem Monat noch übrig blieb, dann sahen sie mich ungläubig an. Denn die Kosten für ein gut funktionierendes Land sind sehr hoch, und Steuern und Sozialabgaben die logische Folge. Was die Mieten anbetrifft, so verhielt es sich ähnlich, sie konnten sich nicht vorstellen, dass man soviel Geld auf den Tisch legen muss, um einigermaßen vernünftig zu wohnen.

Was allerdings die Vorlieben und Wünsche meiner Landsleute anbetraf, so war es relativ leicht, ein Bild zu vermitteln. Es gab zu jener Zeit noch eine große Deckungsgleichheit bezüglich bestimmter Sehnsüchte. Dazu gehörten bestimmte Sportereignisse, Kultur und Musik und selbstverständlich der Wunsch, zu reisen und etwas von der Welt zu sehen. Und wenn ich gefragt wurde, ob die Menschen in meinem Land zufrieden und glücklich sind, dann konnte ich guten Gewissens antworten, dass mehrheitlich dieses Gefühl durchaus vorhanden war. Der Großteil hatte Arbeit, die einigermaßen vernünftig bezahlt war, wir lebten im Frieden und waren in keine Kriege verwickelt, das Land war seit ein paar Jahren wieder vereinigt und es gab lebhafte Diskussionen darüber, wie eine bessere Zukunft aussehen sollte. 

Als ich vor einigen Tagen an diese Gespräche zurückdachte, stellte ich mir die Frage, wie ich die Fragen meiner neugierigen Kollegen heute wohl beantworten würde. Es wurde mir klar, was in dieser Zeit alles passiert war und wie viele Dinge, aus Sicht meines Landes, seither schief gelaufen sind. Würde ich noch erzählen wollen, dass das Land tief gespalten ist, dass auf der einen Seite Individuen mit astronomischem Reichtum existierten, während andere, vor allem Alte, zum Teil aus Mülltonnen fräßen? Würde ich erzählen wollen, dass der Sport zu einem reinen Geschäftsmodell verkommen war, dass Musik und Kultur in einer Krise als nicht systemrelevant deklariert worden war? Würde ich erzählen, dass nach dem Glücksmoment einer wiedererlangten Einheit die Konfrontation und ein neuer Kalter Krieg herrschte? Würde ich erzählen wollen, dass man nicht mehr streiten konnte und nur noch wie Hyänen übereinander herfiel, wenn man nicht der einen, offiziellen Sichtweise anhing? Und würde ich guten Gewissens sagen können, dass so etwas wie ein zuversichtlicher Blick auf die Zukunft vorherrschte?

So, wie ich mich kenne, würde ich bei der Wahrheit bleiben, und so, wie ich meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen kenne, würden sie mir einen Tee anbieten und mich zu trösten suchen. 

Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn

Jede öffentliche Diskussion ist auch ein Symptom. Sie zeigt, womit sich eine Gesellschaft beschäftigt, was sie umtreibt und welche Befindlichkeiten dominieren. Blickt man auf die Themen, die momentan im viel zitierten Sommerloch stattfinden, dann könnte der Eindruck entstehen, dass das, was durch die Gazetten zieht, ein Ausdruck von Langeweile ist, der mangels tatsächlich gesellschaftlich relevanter Themen entstanden ist. Nur, und da sollte man sich vor Illusionen hüten, brisante politische Themen gibt es genug, zumal die Republik in gut zehn Wochen vor einer Bundestagswahl steht.

Das Portfolio der angesagten Themen dieser Tage dreht sich um Covid-19, wie sollte es auch anders sein, um die Korrektur von Sprachgewohnheiten im Deutschen, um Studienabschlüsse, Stipendien, Steuermeldungen und Publikationen einer Kandidatin für das Kanzleramt, um das Klima, eine Fußballeuropameisterschaft und anstehende Olympische Spiele. Abgesehen von dem Erstaunen über das Ausbleiben von essenziellen Diskussionen, die für dieses Land vital sind, wie der Zustand und die Verfasstheit des Rechts, die Organisation des Staates und seiner Bürokratie, die klaffende Wunde sozialer Ungleichheit oder die Sicherheit in der Welt, die von vielen schmerzlich vermisst werden, fällt auf, dass die gewählten Themen alle mit einem Phänomen behaftet sind, das unter dem Titel Doppelte Standards gut beschrieben ist.

Da werden gesunde Bürgerinnen und Bürger, die sich umsichtig und vernünftig verhalten,  zunehmend diskriminiert, da beginnen die pawlow´schen Hunde einer sinnfreien Bürokratie damit, Begriffe aus dem Sprachgebrauch zu streichen, die nicht im entferntesten mit Diskriminierung und Rassismus zu erklären sind, da werden Täuschungsmanöver und bewusste Falschinformationen einer Kandidatin bagatellisiert, da wird hart an der Illusion gearbeitet, durch ein politisches Zurückbomben der Produktivkräfte in ein vor-industrielles Zeitalter bewahre man die Menschheit vor einem Klimawandel, da werden rund um Sportereignisse Ressentiments geschürt und bestätigt, die Ausdruck einer Verrohung sind, die die große Geldmaschine und ihre Propagandaorgane bewirkt haben. Passierte das alles in anderen Gefilden, dann wäre die Empörung groß und man zögerte keine Minute, um sich in den vielen Foren zu entladen. Selbstverständlich ohne eigene Konsequenz.

Dass diese Mechanismen, die von außen betrachtet dazu führen, am Zustand dieses Landes zu zweifeln, fällt niemandem so recht auf, oder zumindest will es niemand wissen. Der Geist, der vorherrscht, ist der einer systematischen Selbsttäuschung, die eine Art Wohlgefühl herbeiführt, das nicht untypisch ist bei Krankheitsverläufen als Vorbote einer dramatischen Verschlechterung. 

Die Symptome sind eindeutig. Die Diagnose ebenso. Mangels eines Eintrages einer derartigen Krankheit in medizinischen Standardwerken muss die Beschreibung helfen. Es handelt sich um Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn und dem jedem Größenwahn innewohnenden Zweifel an der eigenen Unzulänglichkeit. Denn irgendwo im Innern, das spüren alle, die dieses Wälzen auf dem psychologisch-politischen Krankenbett verfolgen, da nagt die Angst an der eigenen Unzulänglichkeit und beflügelt die destruktivsten Kräfte, die vorstellbar sind. Hinter all dem Getöse lauert die Angst, es doch nicht mehr hinzubekommen, mit sich selbst und der Gesellschaft. Das Prädikat der deutschen Zustände kann insofern nicht mehr anders lauten als prekär. 

Es ist zu empfehlen, alles, was im Vorfeld der anstehenden Wahlen in den gewohnten Kanälen des politischen Diskurses thematisiert und behandelt wird, von außen zu betrachten und mit der Diagnose dessen zu beginnen, was als die prekären deutschen Zustände beschrieben werden muss. Treten Sie zurück, nehmen Sie Abstand und betrachten das Ganze kalten Auges! Und legen Sie sich nicht in das zerwühlte, infektiöse Bett!