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Die Schamanen der Angst und der Pragmatismus

Während gemunkelt wird, dass der aufgehende protestantische Stern in Bayern daran denkt, die Gebirgsjäger zu mobilisieren, um in das unzüchtig verfahrende Terrain des Habsburger Klüngels einzumarschieren, weil der dortige Kanzler, ein Beau und Parvenü ohne Konzept, trotz höherer Inzidenzzahlen als in Bayern an Lockerungen denkt, um im Schlawinerland wieder die Unzucht triumphieren zu lassen, denkt der im Geiste Siamesische Zwilling aus dem Nachbarland der Badener, Württemberger, Schwaben und Alemannen, der sich auch im Wahlkampfmodus befindet, darüber nach, wie er der Judikative ein Schnippchen schlagen kann. Denn die kam zu der aus seiner Sicht abstrusen Ansicht, dass nächtliche Ausgangssperren bei der gegenwärtigen Infektionslage weit übertrieben seien. Da muss man, so der schwäbelnde Grandseigneur, dazu übergehen, die Haustüren durch dezentrale Beschlüsse vernageln zu lassen.

Wobei wir beim eigentlichen Thema wären. Es geht um das Vernageln. Genauer gesagt, um das Vernagelt-Sein vieler, die ein Mandat von der Bevölkerung erhalten haben, um Entscheidungen zu treffen, die im Sinne der Auftraggeber sind. Dieser einfache Sachverhalt ist seit langem vielen der Mandatsträger nicht mehr bewusst, wie es vielen in der Bürokratie seit langem nicht mehr gewärtig ist, in wessen Auftrag sie handeln und wer sie finanziert. Die Krise, die durch die Pandemie ausgelöst wurde, ist multiperspektivisch, die Krise, die in den Köpfen vieler Politiker sukzessive stattfindet, ist hingegen eindimensional. Sie sind verloren in dem Irrglauben, sie seien im Besitz der Wahrheit und sie könnten mit der Bevölkerung reden, wie das schlechte Pädagogen mit Kindern vor mehr als einem halben Jahrhundert gemacht haben. 

Sie glauben, streng und hart agieren zu müssen, weil die Bevölkerung uneinsichtig und ungezogen ist. Was, neben der Ignoranz gegenüber ihrem eigenen Dienstverhältnis, trotz möglicher, eigener Juvenilität nicht weiß, was Jugend bedeutet und welche Bedürfnisse damit verbunden sind, wer aufgrund der eigenen, nicht schlechten und dauerhaften Alimentation keine Vorstellung davon hat, was es bedeutet, existenziell bedroht zu sein, und wer zudem noch glaubt, aufgrund der Meinung weniger Wissenschaftler im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, eignet sich nicht für diesen Job.

Die innere Dynamik des Entfremdungsprozesses und die von ihm ausgehenden Rauschzustände vorher ungeahnter Machtfülle hat zudem dazu geführt, dass vielen, die jetzt bereits jenseits der Realität durch das Irrgestirn der Illusionen wabern, so langsam dämmert, dass ihre Potenz nur solange valide erscheint, wie der ständig sich verschärfende Bann von Grundrechten anhält. Und in diesem Punkt haben sie Recht. Das ist der einzig helle Moment, der denen attestiert werden kann, die sich täglich in den Rumpelshows der öffentlich-rechtlichen Medien die Lippen leckend selbst bewundern dürfen, indem sie die triste Leier der täglichen Infektionszahlen abspulen und alles tun, um im Bad der Gefahren ihre eigene Bedeutung zu unterstreichen. So agieren Schamanen der Angst. Und wir, die Zuschauer, sehen es uns an, überdrüssig, angewidert, wütend. 

Manchmal ist es ratsam, in den Geschichtsbüchern nach Erklärung zu suchen, oder einfach nur, um Erholung zu erhoffen von dem irren Schauspiel, mit dem wir täglich konfrontiert sind. Kürzlich las ich wieder etwas über das Erdbeben von Lissabon. Es ereignete sich am 1. November 1755, verwüstete die Stadt, man sprach von 100.000 Toten. Es folgten Brände und Epidemien. Abgesehen von dem Einschnitt in das Weltbild jener Zeit und die Auswirkungen auf ein von der Vernunft geleitetes Denken, das es auslöste, war da auch ein Politiker, der durch seinen Pragmatismus bis in unsere Gegenwart leuchtet. Sabastiao de Mello, der damalige Premier, gelang es, die Menschen aus den Verheerungen zu ziehen. Der Satz, der überliefert ist und der sein pragmatisches Vorgehen am besten charakterisiert, strahlt bis in die Gegenwart:

„Und nun? Beerdigt die Toten und sorgt für die Lebenden.“ 

Sebastiao, komm zu uns, wir brauchen dich!

An der Zeit, den Kopf zu heben

Bei einer soziologisch-historischen Studie der amerikanischen Präsidenten, die vor einigen Jahren bereits erschien, kamen die Autoren zu dem Schluss, dass es einen signifikanten Unterschied zwischen den verschiedenen Präsidenten gegeben hat. Entweder, sie stammten vom Land, d.h. aus der Provinz, oder sie waren in den Metropolen sozialisiert. Diejenigen aus der Provinz waren ausgerechnet jene, die mit einer Vision in ihr Amt gingen, und die, die in den Metropolen bereits sozialisiert waren, galten als die Pragmatiker. Logisch ist der Ansatz. Denn wer im Kornfeld steht und bis zum Horizont schaut, dem ist es vergönnt, sich Gedanken über das Große und Ganze zu machen, und wer in den Gängen der Lobby groß wird, der ist mit den täglichen kleinen Deals beschäftigt.

Nun wäre es erforderlich, die ganzen Kolonnen der Politiker, mit denen wir es zu tun haben, zu durchleuchten und die Studien auszuweiten und durchzuführen. Die These für Deutschland unerforscht 1:1 zu übernehmen ist gewagt, und vielleicht trifft sie hier überhaupt nicht zu. Sicher ist nur, zumindest aus meiner Sicht, dass Politik generell zunehmend drunter leidet, ohne Vision, ohne Programm und ohne Strategie kommuniziert und vollzogen zu werden. Es ist eine heikle, ja nahezu irre Frage, ob Politik ohne eine Vision am Horizont auskommen kann. Deutlich ist, dass eine solche Vision fast vollständig fehlt. Es ist nicht unbedingt der Nachweis, dass Politik ohne großen Kurs überleben kann, sondern legt die These nahe, dass die große Krise, in der sich Politik befindet, in der Tatsache der Perspektivlosigkeit begründet ist.

Gerade darin scheint das Dilemma zu liegen. Politik wird nicht mehr begründet mit einem größeren Ziel, sondern mit einem irgendwie vorhandenen Ansatz und einem Anflug von Alltagsräson. Es klingt absurd, aber genau das ist in einem Land wie Deutschland, in dem es immer um das große System und das Prinzip geht, zu wenig. Wenn der von dem Historiker Heinrich August Winkler so beschworene lange Weg nach Westen darin bestanden hat, sich abzugewöhnen, die große Perspektive zu entwickeln und dem zwanghaften Versuch, den durchaus probaten, aber kulturell eben anders sozialisierten angelsächsischen Pragmatismus zu kopieren, dann ist dieses Unterfangen in einen unbefriedigenden Zustand gemündet.

Das letzte Relikt eines großen Plans ist das ständige Pochen auf den bei uns zumindest noch aufgeschrieben vorhandenen Wertekodex. Vertreter der angelsächsischen Blaupause dafür würden sich hüten, bei der Wahrung ihrer Interessen darauf zu verweisen, weil sowohl das einstige britische wie das heute amerikanische Imperium wussten, dass es Dinge gibt, die man tun muss, um die Macht zu erhalten, die sich aber nicht eignen, um in den Annalen der Systementwicklung zu erscheinen.

Stattdessen summt die deutsche Politik nahezu gemeinsam, aber zumindest im Kanon die Weise von den Werten, und macht dabei alles, was diesen nicht entspricht. Sie sieht dabei nicht, dass die eigene Glaubwürdigkeit hier darunter leidet und die Werte dort, wo sich nicht gelten, jeglichen Ruf verlieren. Die Konsequenz ist eine täglich gelebte Doppelmoral, die zu der Krise führt, in der wir uns befinden. 

Es ist an der Zeit, sich wieder mit großen Visionen zu beschäftigen, um einen Maßstab zu fertigen, an dem sich Politik messen lassen kann. Das muss nicht in Dogmatismus enden, aber es würde dazu erziehen, den Kopf zu heben und bis zum Horizont zu blicken.

Die Hoffnung stirbt zuletzt!

Das Geschrei dauerte noch an, da hatte die Arbeit schon längst begonnen. Natürlich im Stillen und jenseits der großen Aufmerksamkeit. So könnte die Situation beschrieben werden, wie sie sich momentan im Land nach dem großen Schock darstellt. Viele, sehr viele Menschen drängten hierher um Zuflucht zu suchen und viele, auch und besonders die Öffentlichkeit, wurden dadurch überrascht. Angesichts der politischen Vorarbeit auf der Welt müsste das nicht überraschen, aber auch die kluge Rückbetrachtung hilft nicht wirklich, wenn es darum geht, den Status Quo zu managen und die Zukunft vorzubereiten. Und dann wurden die Wurfgeschosse der Beschuldigung in alle Richtungen geworfen, gegen die, die kamen, gegen die, die sie Willkommen hießen, gegen die,, die das alles zu verantworten hatten, gegen die, die darüber berichteten. Die gesamte Geschichte ist typisch dafür, wie eine saturierte Gesellschaft mit etwas fundamental Neuem umgeht. Die Erregung und die sich in Superlative steigernde Emotionalität dominierten lange nahezu alles, vor allem den von einem Grundgefühl der Humanität aus handelnden Pragmatismus.

Aber, und das ist die positive Nachricht, jenseits der großen Öffentlichkeit, längst hat sich in dieser Republik eine Kraft zu Wort gemeldet, die ihre Arbeit längst begonnen hat und dabei ist, erste, kleine Erfolge zu erzielen. Das sind diejenigen, die nicht zum ersten Mal Immigranten zur Seite stehen, wenn sie in dieses Land kommen, es sind diejenigen, die Schulen organisieren und am Laufen halten und natürlich diejenigen, die dort unterrichten, es sind diejenigen, die ihre Vereine schon immer für fremde, neue Bürgerinnen und Bürger geöffnet haben, es sind politische Parteien, es sind Initiativen und es sind ganze Belegschaften in den Betrieben und es sind die ganz normalen Leute auf der der Straße. Sie sind längst dabei, Gutes zu finanzieren, sie sind dabei, Projekte zu organisieren und sie sind dabei, Beistand zu leisten. Die Berichte darüber sind spärlich, was nichts macht, aber die Spärlichkeit erweckt den Eindruck, als dominierten die Propagandisten, Hetzer und Hassprediger dieses Land. Doch das stimmt nicht. Der Anteil derer, die jetzt die Arbeit machen, die diese Gesellschaft braucht, ist weitaus größer.

Und, was sich jetzt herausstellt, ist die tatsächliche Kraft derer, die als Immigranten vor langer Zeit in dieses Land gekommen sind und die sich jetzt sehr selbstverständlich ebenfalls an die Arbeit machen. Sie sind es, die noch größeren positiven und vor allem pädagogischen Einfluss auf diejenigen haben, die neu kommen, sei es aufgrund der gleichen, ursprünglichen Heimat, sei es aufgrund der gleichen Sprache oder der gleichen kulturellen Sozialisation. Viele von ihnen sind längst bei der Arbeit, sei es, sie organisieren in Form von Bildungsvereinen Willkommensklassen, sei es, sie betreiben Küchen, sei es, sie gehen in die Lager und erzählen einfach. Wie es Ihnen ergangen ist, was sie haben lernen müssen und wie sie begonnen haben, die, die hier schon immer gelebt haben, zu begreifen. Das sind zum Teil Botschaften, die nicht ganz so einfach für die, die neu sind, zu begreifen sind, die ihnen von ihnen aber in einer durchaus konsequenten Art und Sprache beigebracht werden.

Nach dem Vorlauf der destruktiven Rituale bekommt nun auch eine gestaltende Kraft in diesem Land Konturen. Es ist eine überaus positive Entwicklung, die sich nicht von denen, die auf Angst und Schrecken spekulieren, bremsen lassen darf. Es ist wie immer: Die Hoffnung stirbt zuletzt!