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Weisungsgebundene Staatsanwälte: „Die Menschen sind keine Esel!“

Um der eigenen Bescheidenheit willen muss ich zugeben, dass ich lange Zeit glaubte, die Staatsanwaltschaften in Deutschland besäßen die Souveränität über die Entscheidung, wann und wie sie ermittelten. Aufgrund dessen war ich oft empört über die Passivität der Staatsanwaltschaft bei Vorfällen wie der Cum-Ex-Affäre oder der Sprengung von Nord-Stream 2, die letztendlich bei bestimmten Ergebnissen Regierungs- und sogar Staatskrisen hätten nach sich ziehen könnten. 

Wie es der Zufall so will, war heute in den Radionachrichten zu hören, dass man in Regierungskreisen diskutiere, ob man die so genannte Weisungsgebundenheit von  Staatsanwaltschaften nicht in besonderen Fällen modifizieren müsse. Nämlich dann, wenn Extremisten ein politisches Mandat erhielten und durch das Weisungsrecht verhindern könnten, dass gegen andere Extremisten, die Straftaten begingen, ermittelt würde. Also machte ich mich schlau und konnte bei Google nachlesen:

„Weisungsgebundenheit. Anders als Richter, die bei ihrer Amtsführung nicht an Weisungen von Vorgesetzten gebunden sind, unterstehen Staatsanwälte in Deutschland der Behörden- und Ministerialhierarchie. Damit sind sie an die Weisungen ihrer jeweiligen Vorgesetzten gebunden.“

Die Meldung im Radio ging einher mit dem Hinweis, dass die Bundesrepublik Deutschland schon mehrmals wegen dieser alles andere als die Unabhängigkeit der Justiz ausweisende Merkwürdigkeit angemahnt worden ist mit der Bitte um Änderung.

Was sich insgesamt als eine formale und vielleicht trockene Angelegenheit darstellt, ist ein hoch explosiver Sachverhalt. Und nicht allein wegen der durchaus berechtigten Spekulation, dass gegenwärtige Amtsinhaber von ihrem Weisungsrecht an Staatsanwaltschaften Gebrauch machen und Gebrauch gemacht haben, um eigenes Fehlverhalten zu vertuschen, sondern dass sie dieses Recht so lange für sich reklamieren, wie sie es quasi als Monopol besitzen. Sie fürchten die Handhabung dieses alles andere als rechtsstaatlichen Privilegs durch die politische Konkurrenz wie der Teufel das Weihwasser und sprechen von Missbrauch.  

Die Explosivität dieses Sachverhalts liegt in der Zerstörung des Vertrauens. Das ist, ohne Wenn und Aber, aus meiner Sicht die große Krise der Demokratie, die wir momentan durchleben. Die nahezu durchgängige Praxis doppelmoralischen Handelns, innen- wie außenpolitisch, hat zu einer Unglaubwürdigkeit geführt, die nicht nur die handelnden Personen erreicht hat. Nein, sie ist auch eine negative Referenz für das politische System geworden, weil innerhalb desselben niemand den Finger hebt und Einheit gebietet. Instanzen wie der Präsident oder die Opposition sitzen bräsig in ihren Gemächern und erfreuen sich an einer Praxis, die die Basis einer jeden Gesellschaftsordnung in der Lage ist bis auf die Grundmauern zu zerstören.

Und als wäre es nicht genug, das Vertrauen durch das eigene Handeln zu zerstören, wird die Kritik daran als eine populistischen Volte oder das naive Gemecker von intellektuell überforderten Bürgern diskreditiert. Wer so unterwegs ist, braucht sich nicht zu wundern, dass die aktive Zustimmung zu den eigenen Positionen dahinschmilzt wie der Schnee in der Sonne. 

Die Finger weg vom eigenen Machtmissbrauch! Lasst die Staatsanwaltschaften ermitteln, wenn und wie sie es für richtig halten! Und hören Sie in dieser Frage auf den Tadel der EU! Und kommen Sie bitte jetzt nicht, und verkleiden ihr eigenes Monopol auf Missbrauch als Kampf gegen den Rechtsradikalismus! Diese Logik ist genauso wenig glaubwürdig wie die vielen doppelmoralischen Manöver, in die Sie verwickelt sind. Es ist beschämend! Wie Sie sich aufführen! Und für wie dumm Sie die Menschen halten. Wie schrieb Heinrich Heine so treffend? „Die Menschen sind keine Esel!“ 

Lässliche Sünden? Im politischen System?

Wo beginnt eine Fehlentwicklung? Sicherlich nicht dann, wenn die ersten Anzeichen dazu lesbar sind. Es erfordert ein waches Auge und einen tiefen Sinn für die mögliche Gravität einer Entwicklung, um die Zeichen rechtzeitig lesen zu können. Für mich steht außer Zweifel, dass alles, was entsteht, nicht nur laut Mephistopheles wert ist, irgendwann unterzugehen, sondern auch frühzeitig als positiv oder negativ diagnostiziert werden kann. Im Deutschen existiert die so treffende Formulierung der lässlichen Sünde. Sie beschreibt das, was als Wurzel vieler Übel angesehen werden kann. Das Hinwegsehen über einen Misstand, oder eine Inkonsequenz oder was auch immer, um sich nicht gegen den Strom des Einverständnisses wenden zu müssen. Nun lass ihn doch, ist doch alles nicht so schlimm, es gibt Schlimmeres.

Ja, die Toleranz gegenüber derartigen Entwicklungen ist oft angebracht, denn sonst verwandelten wir unser Leben in eine Zuchtanstalt ohne Lebensqualität. Wer es nicht erträgt, Fehler anderer zu tolerieren und über sie hinwegzusehen, der ist ein Pedant oder, wie eine strenge Lehrerin früherer Tage so furchtbar ausdrückte, ein unliebsamer Zeitgenosse. 

Insofern wäre meine anfangs formulierte These, die die Notwendigkeit eines Frühwarnsystems für Fehlentwicklungen beinhaltet, eine überflüssige Bemerkung gewesen, gäbe es nicht Sujets, die eine Unterscheidung in der Haltung verlangen. Ist das duldsame, tolerante Verhalten gegenüber Fehlleistungen von Individuen durchaus auch als ein Gebot einer humanistischen Erziehung zu sehen, so ist die Notwendigkeit brutaler Konsequenz in der Politik und im politischen System eine Voraussetzung vernünftiger Zustände. Die Regeln des Zusammenlebens müssen klar sein und für alle gelten. Ist das nicht der Fall, dann schleichen sich Phänomene ein, die weitreichend sind.

Gelten die Regeln nicht für alle, so ist die Legitimation des Systems dann gefährdet, wenn die Mehrheit beginnt unter dem Privileg der Missachtung zu leiden. Wird die Regelverletzung durch Einzelne bagatellisiert, so ist damit zu rechnen, dass sich daraus ein Massenphänomen entwickeln wird. Sind die Maschen, das System zu umgehen gar für manche Gruppen bewusst so angelegt, dann ist es aus mit der Legitimität. 

Das Spannungsfeld zwischen Toleranz und Konsequenz wird vor allem in Krisenzeiten von allen Teilen der Gesellschaft, aus jeder nur möglichen Perspektive, beobachtet. Wer glaubt, auf der einen Seite mit der Krise eine Verschärfung der Regeln begründen zu müssen und auf der anderen Seite den Vorhang des Schweigens über gravierende Verstöße vertuschen zu können, begeht einen gravierenden Fehler. Das ist kein Spiel mit dem Feuer, sondern Brandstiftung.

Die notwendige, nahezu logische Konsequenz eines Handelns, das einerseits den Regelverstoß bagatellisiert und ihn andererseits zu skandalisieren, ist die Etablierung einer Doppelmoral, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt systematisch zerfrisst. Die beim Regelverstoß Privilegierten tendieren dazu, ihr Verhalten zu kultivieren und beim Verstoß in immer neue Dimensionen vorzudringen. Und die bei Verstoß Gemaßregelten sehen sich als Underdogs und Parias und verlieren damit ihren Glauben an die Gesellschaft. Und die große, staunende und schweigende Mehrheit bleibt zurück im leeren Entsetzen.

Von dieser Geschichte, die leider immer neue Daseinsformen mit jeder neuen Krise darbietet, ist keine Moral zu berichten. Sie dokumentiert eher einen fortschreitenden Zerfallsprozess, der nicht mehr aufgehalten werden kann. Zumindest nicht mit einem politischen Argument. Die Politik, geübt in der systemischen Inkonsequenz, kann nicht oder traut sich nicht zur Konsequenz zurückzukehren. Die in ihren Verstößen Privilegierten sind mittlerweile der Überzeugung, ihr Verhalten sei bereits das System. Und die Gemaßregelten sinnen auf Rache.  

Der Laden muss laufen und der Anspruch gelebt werden

Fast möchte man allen raten, die verzweifelt sind und noch unter Kriterien aufwuchsen, die dem christlichen Abendland entsprachen, sich auf die Knie zu werfen und die Hände bittend gen Himmel zu richten. Vielleicht nicht gleich, um Gott um Erlösung zu bitten, sondern den großen Weltgeist anzurufen und zu bitten um Einsicht. Allzu unübersichtlich sind die Verhältnisse, in denen sich die auf sich gestellten Individuen bewegen müssen. Allzu undurchsichtig ist ihr jeweiliges Treiben. Allzu sinnlos scheint die Welt geworden zu sein. Wer vermag noch Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten? Wem ist es noch gegeben, Gegebenheiten, die im Detail vernünftig erscheinen, in einen größeren Zusammenhang zu stellen und neu zu bewerten? Und, nicht zuletzt unter vielem mehr, wer hat noch die Courage, nach bestem Wissen und Gewissen überhaupt ein Urteil zu fällen?

Es scheint so, als wäre das Gesellschaftskonzept, welches mit dem Bürgertum der westlichen Welt in Form kam und das das Individuum, seine Entfaltung und sein Glück als Zentrum der Betrachtung sah, den Schlägen, die die Welt seit der Globalisierung durch Finanz-, Kapital-, Waren- und Geldbewegungen erfuhr, nicht mehr gewachsen ist. Zumindest die Fähigkeit, Krisen zu meistern, erweckt den Eindruck eines kollektiven Ertrinkens in einem Meer der Unübersichtlichkeit. 

Und so absurd es erscheint: etwas eifersüchtig schielt der Westen auf die Gesellschaften, die mal als asiatische Despotien, mal als auf dem Kollektivismus basierende Autokratien beschrieben werden, zum Teil schneller und besser den Schlägen auszuweichen vermögen. Die Anarchie, die der flächendeckend verbreitete Kapitalismus dem Weltgeschehen präsentiert, erfordert zweierlei: der Laden muss laufen und der Anspruch muss dabei gelebt werden. Und was machen die gewitzten Regierungen des Westens? Sie kopieren, selbstverständlich unter anderem Vorzeichen, die dirigistischen, mit Sanktionen durchsetzten Vorgehensweisen eben jener Staaten, um das rettende Ufer, den Machterhalt, zu erreichen.

Das konkrete Handeln ebenjener Regierungen ist an Absurdität nicht zu steigern. Gemäß der von ihnen wie dem gesamten Staatsgebilde und ihm zugrunde liegenden Dokumenten wäre der logische Schluss, die Individuen wie das Kollektiv zu ermächtigen, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Mit diesem Mantra geht man schließlich rund um den Globus, um die Vorzüge des eigenen Staatswesens zu reklamieren. Die Frage, wie es aus der Perspektive kollektivistischer Gesellschaften oder anderer, in der der Freiheitsbegriff ein gänzlich anderer ist, ankommt, wenn bei ernsthaften Erschütterungen die Essenz des eigenen Staatswesens über Bord geworfen und mit Ausnahmegesetzen, Sonderbestimmungen, restriktiven Verhaltensregeln operiert wird und die vitalen Rechte des Systems außer Kraft gesetzt werden, erschließt sich dem externen Beobachter aus der Distanz nicht.

Insofern ist es zu verstehen, dass der politische Ruf der westlichen Gesellschaften in der letzten Zeit im Weltmaßstab sehr gelitten hat. Das kann man den Menschen in den anderen, nicht zu unterschätzenden Winkeln dieser Welt nicht vorwerfen, ganz im Gegenteil, es ist folgerichtig. Denn wie soll ein seiner Sinne mächtiger Beobachter darauf reagieren, wenn ein System, das für sich wirbt, bei der ersten Krise alles, was das System ausmacht, schleunigst im Gully verschwinden lässt? 

Es ist zu raten, sich umzuschauen und zu erfahren, wie die Welt auf den systemischen Sinneswandel reagiert. Wenn das fruchtet, böte sich vielleicht die Chance, auch jene, mitten unter uns, zu verstehen, die diese Mutation des eigenen Systems aus gutem Grunde nicht einsehen wollen. Indem auch sie ignoriert werden, gleich der Perspektive aus anderen Ländern, macht man sie auch zu Außenstehenden. Und auch sie werden den Kopf schütteln und sich enttäuscht abwenden.