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Wo sitzt die pensionierte Mitte?

Skurriler könnten die Tagesnachrichten nicht beginnen. Dennoch sind sie ein treffendes Symptom der Zeit, die wir durchleben. Da sitzt ein renommierter und momentan in den Medien gehypter Journalist im Salon Schinkelplatz in Berlin und entwickelt eine neue Art der politischen Arithmetik. Da sich die Mitte so schwer tut, so seine Theorie, erstarken die Ränder. Und je mehr die Ränder erstarken, desto schwerer tut sich die Mitte. Das sei das Dilemma.

Von der formalen Logik eines Models an sich hat der Mann gar nicht so Unrecht. Abstrahiert von den politischen Inhalten, die sowohl in der Mitte als auch an den Rändern vertreten und betrieben wird, sind allerdings Erklärungen möglich, die er nicht bieten kann. Warum? Weil er der Betrachtung der Mitte folgt, die da lautet, dass die Mitte gleichzusetzen ist mit der Demokratie und die Ränder zum verfassungswidrigen Hexenwerk gehören. 

Dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Politik der Mitte, egal in welcher Konstellation, und dem Erstarken der Ränder – darauf kommt der gefeierte Journalist und Buchautor nicht. Warum? Weil es nicht erlaubt ist. Wer Sozialabbau, hemmungslose Bereicherung auf Kosten der Gemeinschaft, imperialistisches Dominanzgehabe und die Militarisierung der Gesellschaft und der gesamten Politik, sowie die Verselbständigung der Interessen der Mandatsträger öffentlich als Ursache für den Schwund der Mitte benennt, ist Verfassungsfeind, bezahlter Agent, Faschist oder gleich alles zusammen. Die skizzierte Arithmetik von Mitte und Rand dokumentiert nur eines: Wo das Tabu herrscht, bricht sich keine Erkenntnis bahn. Treffender wäre, um die Quintessenz aus dem Salon Schinkelplatz zu benennen, der Begriff des Circulus viciosus, des Teufelskreises. Und wer in der Logik dieses Kreises bleibt, wird ihn nie durchbrechen.

Und eine zweite Nachricht, eher als Randnotiz gedacht, dokumentiert auf eine ganz andere Weise, wie das Tabu, gedacht und durchgesetzt als politischer Standard, die Fähigkeit, das Absurde zu erkennen, außer Kraft setzt. Da gab es eine Demonstration in Köln, die sich gegen den Rüstungskonzern Rheinmetall wandte. Unter der durchaus sympathischen Parole „Rheinmetall entwaffnen!“ zogen ca. 3000 Menschen durch die Stadt und protestierten gegen die Militarisierungspläne der Bundesregierung. Die Firma Rheinmetall gehört zu den großen Gewinnern des Ukraine-Krieges und der herrschenden Kriegspolitik. Laut Polizeiangaben habe man Schlagstöcke eingesetzt, um Übergriffe zu vermeiden. Von der Kausalität her hört sich das bereits absurd an. Was aber noch gesteigert wird durch die Insinuierung, dass 3000 Menschen in Köln ein bedrohlicheres Gewaltpotenzial darstellen als einer der größten Produzenten von Kriegsgerät in Europa. So treibt man die Kaninchen in die Küche!

Und auch diese Logik, dass nämlich die Wahrnehmung demokratischer Grundrechte wie eben das des freien Wortes und das der Demonstration von denen, die eigentlich das Mandat haben, diese Rechte zu schützen, als Bedrohung der Demokratie angesehen wird, zeigt die Ursachen für die Schwächung dessen, was sich so gerne die Mitte nennt. So erklärt sich Politik, ihre Ursachen und ihre Wirkung. Das, was dieses System Richtung Friedhof trägt, ist die Tatsache, dass die regierende Mitte auf der falschen Seite steht. Die Staatsfeinde sind die Demonteure des Gemeinwesens und Kriegstreiber. Und sieht man sich die Karrieren der Mandatsträger an, die irgendwann  genau in den Aufsichtsräten landen, wo die Zerstörung vorbereitet und administriert wird, dann wird dieses noch einmal in unappetitlicher Weise deutlich. Da sitzt die pensionierte Mitte und lässt sich ab und zu auch noch dazu herab, den öffentlichen Raum mit ihren politischen Flatulenzen zu kontaminieren. 

Wo sitzt die pensionierte Mitte?