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Schatila und Sabra

Manchmal ist die Geschichte gnadenlos. Da wird dann in Zeiten einer gewissen Saturiertheit etwas bewertet, das in seiner Ungeheuerlichkeit gar nicht mehr wirkt. So und nicht anders ist es zu erklären, dass sich heute Wissenschaftler allen Ernstes über Vernichtungszahlen streiten. Das betrifft die Schlachten des I. Weltkrieges ebenso wie die des Zweiten, das betrifft den Holocaust und natürlich auch zeitgenössische Vergehen. In einer Gegenwart, die sich zu oft über numerische Messbarkeit definiert, geht das leicht von der Hand, dokumentiert aber etwas Schreckliches: den Verlust einer Bewertungsfähigkeit jenseits des positivistischen Maßes. Hätte die Historiographie vor unserer Zeit so gedacht wie unser heutiger Zeitgeist, dann wären die Morde an Cäsar oder Lincoln gar nicht erwähnt und als historisch unbedeutend klassifiziert worden, weil sie kein zahlenmäßiges Leid gebracht hätten. Die Bewertung des einzelnen Schicksals hingegen, das Urteil über Recht und Unrecht, das gegen den Strom der Seichtheit steht, setzt etwas voraus, dass man immer noch treffend mit dem Terminus der Courage bezeichnen muss.

In diesen Tagen macht der Tod des Ariel Sharon die Runde, einstmals israelischer Ministerpräsident und vormaliger Feldherr der Armee dieses Landes. In der Würdigung aus dem deutschen Kanzleramt wird von einem großen Politiker und Patrioten gesprochen, den das Land verloren habe. Es versteht sich, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte auch eine besondere Verantwortung gegenüber dem Staat Israel hat. Und es versteht sich auch, dass in vielem die israelische Demokratie unserer heutigen Vorstellung von der Welt eher entspricht als die mittelalterliche Despotie in vielen Wüstenstaaten. Was allerdings nicht geht und jenseits all dessen steht, was wir aus der Geschichte gelernt haben müssten, ist die Unterschlagung einer Tat, die jener Ariel Sharon begangen hat und die Analogien zu der Menschenverachtung und dem Zynismus aufweist, die hier in Deutschland den Holocaust inszenierten.

In einer zugegeben zugespitzten Phase des libanesischen Bürgerkrieges, nach dem Mord des christlichen Führers und Präsidenten Baschir Gemayel, für den viele die militanten palästinensischen Kräfte verantwortlich gemacht haben, gestattete Ariel Sharon auf Rache gesinnten christlichen Milizen in die Stadtteile Schatila und Sabra im südlichen Beirut einzudringen, wo in erster Linie palästinensische Flüchtlinge lebten. Unter den Augen von Sharon und starken Verbänden der israelischen Armee veranstalteten die eingedrungenen Milizen vom 16. bis zum 18. September 1982 ein Pogrom an der Zivilbevölkerung. Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung und Kindesmord sorgten dafür, dass mehrere Tausend wehrlose Menschen ihr Leben ließen. Ariel Sharon, in den Kondolenzworten der Bundesregierung der große Politiker seines Landes, hätte dieses verhindern können. Stattdessen ließ er die Täter wissen, dass sie nichts zu befürchten haben.

Anhand dieses kleinen Vorgangs aus dem Protokoll des Kanzleramtes wird ersichtlich, wie wenig ernst man zuweilen den Appell an das Lernen aus der Geschichte nehmen kann. Diejenigen, die Krokodilstränen weinen, wenn die Staatsbankette zum Widerstand des 20. Juli abgehalten werden oder sich bei Demonstrationen gegen Nazi-Parteitage todesmutig mit drei Hundertschaften Polizei im Rücken vor fünf Glatzen stellen, hätten ihren Mut beweisen können. Wie schön wäre es gewesen, dem Israel, dem man sich verpflichtet fühlt, zu schreiben, wie schlimm man es hier empfunden hätte, dass ein Politiker aus seinen Reihen den Machenschaften der Monster gefolgt sei, die fast sein Volk ausgelöscht hätten. Das wäre ein Zeichen von Solidarität und Courage gewesen, auf die wir endlich einmal stolz sein könnten.

Loya Dschirga

Jetzt treffen sie wieder aufeinander. Die verschiedenen Welten. Die eine, die die andere nicht versteht. Und die andere, die die eine versteht, aber dennoch verständnislos den Kopf schüttelt. Dabei wäre auch bei diesem Zusammenprall der Kulturen sehr viel Raum für Verständnis, Erleuchtung und Gemeinsamkeit. Aber wir haben vor allem im letzten Jahrzehnt, seit den Vergeltungsschlägen der US-Luftwaffe gegen Rebellen im afghanischen Hochland, registrieren müssen, dass die Kommunikation mit den Repräsentanten der Stämme gar nicht funktioniert. 2002, bei der ersten von westlichen Beobachtern begleiteten Loya Dschirga, der jährlich stattfindenden Versammlung von ca. 2500 Stammesfürsten, Gemeindeältesten, Politikern und Warlords, da stammelten die westlichen Reporter regelrecht ihr Unverständnis in die bereit gestellten Mikrophone. Nichts sei organisiert, es gebe keine Tagesordnung, keine Informationsvorlagen oder Tischvorlagen und selbst die Rednerliste sei Gegenstand ständiger Verhandlung. Wie solle, so damals und alle Jahre wieder die Frage der westlichen Journalisten, denn bei einem derartigen Chaos etwas herauskommen?

Unabhängig davon, was ab heute in den nächsten Tagen der Loya Dschirga zur Verhandlung steht – es wird die Kooperation mit dem Westen nach Abzug der Militärverbände sein -, die Veranstaltung wäre prädestiniert dafür, etwas über Wesen und Befindlichkeit dieser Kulturzone der Welt zu lernen. Und um es gleich zu sagen: mit westlichen Maßstäben gemessen ist alles noch schlimmer als uns in den Nachrichten übermittelt: Die Sitzungen sind unter dem Aspekt der Sitzungs- und Konferenztechnik überhaupt nicht vorbereitet. Was aber exzellent funktioniert, das ist die Versorgung in den großen Zelten, die mit wertvollen Teppichen ausgelegt sind, in denen man auf dem Boden sitzt, Tee trinkt, dazu sich Konfekt oder Gebratenes gönnt und das eine oder andere Haschpfeifchen entzündet. Die Agenda der Loya Dschirga besteht aus nur einem: eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Beteiligten sich wohlfühlen und allmählich bereit werden, um über Dinge zu verhandeln, die ihren Sprengel betreffen. Da geht es um sehr handfeste Interessen, die alle, noch einmal: alle zur Sprache gebracht und verhandelt werden müssen. Nur dann entsteht eine Lage, in der die vielen Einzelergebnisse auf eine andere Ebene transportiert werden, die abstrakter formuliert ist und als die politische Aussage später auf einem Papier steht.

Loya Dschirga, das ist ein ungeheuer partizipativer Workshop, der erst beginnt, wenn die 2500 Teilnehmer einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben, der sie dazu befähigt, das preiszugeben, was sie bewegt. Und erst wenn das geschehen ist, beginnt der Westen, Ergebnisse zu erkennen. Seine Erkenntnis fokussiert sich auf die kondensierte politische Aussage, die vielen tausend kleinen Problemlösungen, die dieser zugrunde liegen, die sieht er nicht.

Der Faktor Zeit, der aus dieser Perspektive nicht angemessen betrachtet werden kann, wird dabei unterschätzt. Die Botschaft, die dieser Form der Verhandlungsführung zugrunde liegt, könnte respektvoller nicht sein: Egal, wie lange es dauert, es wird kein Ergebnis geben, solange wir einander nicht vertrauen und nicht alles auf den Tisch gelegt worden ist. Der Rest, die programmatische Formulierung, ist ein Abfallprodukt dieses Prozesses. Unter dieser, der Loya Dschirga und damit der Stammesfürsten Sichtweise, ist umgekehrt die westliche Verhandlungsführung ein krudes, einschränkendes Top-Down, das im Takt der Uhr ungeduldig auf den Tisch schlägt und die ganz praktischen Belange aus dem täglichen Leben bereit ist zu ignorieren. Derartig unterschiedliche Perspektiven sind nicht dazu angetan, eine Kommunikation gelingen zu lassen. Das Versagen der Loya Dschirga vorzuwerfen, klingt in diesem Kontext nahezu barbarisch.