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Gleich siamesischen Zwillingen

Die Welt treibt sich die Augen. Deutschland mutiert von einem Musterknaben westlicher Bündnisse in relativ kurzer Zeit zu deren Fratze. Dogmatismus bestimmt die Politik. Fremdenfeindlichkeit erfasst unterschiedliche Schichten und große Teile der Gesellschaft und Aggressivität nach außen wird zum Markenzeichen. Das Absurde: Die Eindrücke, die Deutschland derzeit in die Welt vermittelt, korrespondieren nicht unbedingt mit den konkreten Erfahrungen, die Fremde machen, wenn sie nach Deutschland kommen.

Die nämlich berichten von einem zivilisierten Land, das durchaus gastfreundlich sein kann. Gerade Briten und Franzosen, Feinde aus zwei Weltkriegen, sind dabei ihr negatives Deutschlandbild kräftig zu revidieren. Immer mehr Menschen aus dem Westen machen Urlaub hierzulande und sie verlassen nahezu beglückt ihre neu entdeckten Stätten. Und selbst diejenigen, die von der großen deutschen Politik chronisch und systematisch schlecht behandelt werden wie zum Beispiel die Türken, singen in ihrer Heimat Loblieder auf Almanya.

Bei genauerer Betrachtung der Faktoren, die zur Zeit Entsetzen über Deutschland in der Welt auslösen, fällt auf, dass sie schnell zu lokalisieren sind. Was den Dogmatismus anbetrifft, da sind es vor allem die politischen Kräfte, die für mehr militärisches Engagement in der Ukraine plädieren, seltsamerweise vor allem die Grünen als heutige Inquisitoren ihrer eigenen Moral, dicht gefolgt von Christ- und Sozialdemokraten. Die zweite elementare dogmatische Welle ist die ökonomische, d.h. Teile der Regierung haben sich zum Stronghold der Chicagoer Version des Wirtschaftsliberalismus entwickelt, allen voran der Bundesfinanzminister und seine Kanzlerin.

Dann existieren Segmente außerhalb der etablierten Politik, in denen die Furcht vor einer zu großen Diversifizierung der Gesellschaft zu eigenen Existenzängsten führt. Dieser Prozess trägt, was die daraus entstehenden politischen Ansichten betrifft, fundamentalistische Züge. Um sie zu beschreiben, reichen mittlerweile Bergriffe wie PEGIDA oder Tröglitz. Sie artikulieren ihre Ängste über die Abwertung des Fremden und Andersartigen. Eine solche Bewegung ist für Zeiten wie diese nicht untypisch, auch in anderen Teilen der Welt ist so etwas zu beobachten. Was sich für eine konstitutionelle Demokratie als Boden- und Haltlosigkeit erweist, ist die scharfe Verurteilung des xenophobischen Extremismus durch die regierende Politik einerseits und die Adaption der gleichen durch eben diese regierende Politik Verhaltensmuster andererseits.

Es ist einzigartig, wie dieselben Personen, die sich vor laufenden Kameras und eingeschalteten Mikrophonen auf das Schärfste entrüsten über PEGIDA und die Tröglitzer Zivilgesellschaft, die Dachstühle abfackelt, kurze Zeit später vor den gleichen Kameras und Mikrophonen auftauchen, um über die faulen, hinterhältigen und unberechenbaren Griechen herzuziehen. Diese Schäubles, Bosbachs und Gabriels haben sich selbst diskreditiert. Sie gehören zu den Herden des Populismus und der Xenophobie. Und jene Lohnsklaven, die hinter den Kameras und Mikrophonen stehen, sind selbst die Opfer einer Austeritätspolitik in den öffentlich-rechtlichen Medien. Denn genau dort, wo unparteiischer und kritischer Journalismus herrschen sollte, existieren auf der einen Seite nur noch Zeitverträge mit einem Mindestsalär einerseits und fetten Revenuen für die Hofschranzen wie Illner, Jauch und Will andererseits.

Deutschland wird immer noch von denen, die sich unmittelbar hierher begeben, sehr geschätzt. International verspielt es derweilen seine Reputation. Das Perverse bei dieser Entwicklung ist die Allianz zwischen einem lumpenproletarischen Mob und Teilen der politischen Klasse. Gleich siamesischen Zwillingen agieren sie und betreiben einen Prozess fortschreitender Barbarei. Die Hetzer gegen Griechenland und die Griechen an sich unterscheiden sich strukturell nicht vor den Hetzern gegen das Morgenland. In dieses Land hier passen sie beide nicht!

Kobolde erklären die Welt

Die Szene von Friedrich Dürrenmatt beschrieb das Problem in der wohl eindrücklichsten Weise. Da sitzt der Wissenschaftler, der monatelang nach der Formel für die H-Bombe geforscht hatte, letztendlich mit Erfolg, erschöpft und glücklich an seinem Schreibtisch und lässt den Blick schweifen. Dabei sieht er seine Blumen, welk und verdorrt, er hatte sie völlig vergessen in seinem Eifer. Nun betrachtet er sie und weint, weil sie nicht mehr sind.

Die Spezialisierung und die Verfleißigung der Disziplinen sind das Ergebnis einer Revolution des Geistes. Nur durch die Aufklärung konnte der Weg frei gemacht werden für die bedingungslose Verfolgung des Details. Dass damit der Blick für das Ganze, vor allen von den größten Spezialisten, verloren gehen und sich dadurch eine fatale Wahrnehmung der Welt ergeben kann, gehört zu den Gefahren, die die Aufklärung mit sich brachte.

Der Blick für das Ganze ist in unseren Tagen, die eine Rückschau auf das Weltgeschehen bieten, die ermutigt und schockiert zugleich, in der die Irrtümer der Aufklärung mehr Opfer nach sich zogen als die Inquisition des Mittelalters, der Blick auf dieses Ganze ist die einzige Möglichkeit, gegen weitere Destruktionswellen ungeahnten Ausmaßes gefeit zu sein. Der Blick auf das Ganze außerhalb der rein privaten Lebenswelt ist das Metier der Politik. Ohne Politik existiert der Blick aufs Ganze nicht.

In diesen Tagen erleben wir jedoch eine andere Entwicklung. Im Zustand der Krise, die immer ein konzentrierter Ausdruck systemischer Spannungsfelder ist, kommen außer den Parteitrommlern kaum noch Menschen zu Wort, die durch ihre Fähigkeit zu politischem Denken und politischer Analyse bestechen. Selbstverständlich gibt es sie im Land, aber die offizielle Politik, d.h. die Regierung, sie besteht aus einem Personalkörper, der sich paradoxerweise des politischen Denkens entledigt hat.

Stattdessen, um dem Volk nicht die Politik, sondern den Weg der Regierung zu erklären, tauchen Vertreter genau der Gewerke auf, die Dürrenmatt in ihrer Weltverfremdung so treffend beschrieben hatte. Es sind immer dieselben, die sich aufdrängen, weil auch im Metier der Wissenschaften zuweilen noch ein Kodex herrscht, der verbietet, in fremden Wassern zu fischen. Diejenigen allerdings, die sich da medienwirksam verdingen, haben sich aller Kodizes entledigt. Wie der Ökonom mit dem merkwürdig verfremdenden Namen Sinn, der die Welt seinen Theorien anzupassen sucht. Was herauskommt ist eine Karikatur des Captain Ahab, einem Markenzeichen traniger Schuldentheorien. Oder jener Historiker Winkler, dem man wünschte, er verbrächte seine ganze Zeit beim Studium schwer zugänglicher Quellen, denn sein Predigerton bei der Erklärung der Welt macht auch ihn zu einer Karikatur. Absurdere historische Analogieschlüsse als er kann man nicht konstruieren, die Klügeren werden es sich sparen, seine als Standardwerke gepriesenen Bücher nach diesen Auftritten auch noch zu lesen.

Aber wollen wir gerecht sein! Letztendlich ist es nicht den erwähnten Zünften, der Ökonomie wie der historischen Wissenschaft, anzulasten, dass sie auch Kobolde hervorbringen, die sich im Besitz der Weltformel glauben. Die Kritik muss sich gegen die wenden, die keine politische Vorstellung besitzen, obwohl sie die Ämter von Politikern bekleiden. Sie sind es, die dabei sind, res publica, die Sache der Öffentlichkeit, aufgrund ihrer eigenen Phantasielosigkeit an Hasardeure und Scharlatane zu verschleudern. Die Hasardeure sind die Finanzoligarchen, die Scharlatane jene Wissenschaftler, die deren Spielerei auch noch als Notwendigkeit zu erklären suchen.

Technik und res publica

Nun diskutieren sie wieder. Auf dem Kongress re:publica in Berlin hat sich die Welt des unabhängigen Netzes getroffen, um über Chancen und Perspektiven desselben zu beraten. Was auffällt, ist eine bestimmte Katerstimmung. Sie hat etwas zu tun mit der Fragilität der Netzneutralität, mit Stockungen bei der Datenverschlüsselung und mit der angedrohten Vorratsdatenspeicherung und mit der Durchdringung des gesamten Daseins durch Spionagetätigkeit. Kein Grund zum Jubeln, denn der Gedanke der Ermöglichung, der durch die Digitalisierung aufflammte, wird gelöscht von schwer zu realisierenden Bemühungen der Sicherheit. 

Es scheint sich zu offenbaren, dass dort, wo die Macht und das Geld sitzen, auch die Suprematie erreicht wird über eine Technik, die so viel Emanzipation versprach. Auch wenn der Zauber des Möglichen immer wieder auftaucht in vielen intelligenten Innovationen, so ist die Nutzung des technischen Potenzials zur politischen Entmündigung, zur Überwachung und zur gigantischen Vermarktung das Thema, das den gesellschaftlichen Diskurs bewegt. Wie naiv wirken da noch die Argumente derer, die der Technik an sich die Treiberfunktion für technische wie gesellschaftliche Innovation zugeschrieben haben. Es ist wie mit den Atomphysikern, sie konstruierten die H-Bombe und weinten zeitgleich über verdorrte Blumen. Es wird Zeit, das die Begeisterung über die revolutionären Potenziale politisch die Naivität verlässt und ins Erwachsenenstadium gelangt.

Das Problem ist nicht neu und die Muster, nach denen die Diskussion geführt wird, alt. Jede Technik, die eine neue Dimension der Massenkommunikation aufbrach, wurde von denen, die an ihrer Vermarktung Interesse hatten, mit den neuen Möglichkeiten von Bildung promotet. Das war mit dem Radio so, das war mit dem TV so, und das war auch mit der Computerisierung so. Und so bitter das Fazit klingen mag, allen diesen Wellen ist gemein, dass sie ein neues und nachhaltiges Verhalten zur jeweiligen Technik zu inszenieren vermochten, aber den Bildungsstand der Massen nicht verbesserten. Stattdessen trugen sie durch das angesprochene veränderte Verhalten dazu bei, dass die ehernen, erfolgreichen und in diesem Kontext nahezu heilig zu nennenden Institute wie Familie und Schule, die für Erziehung und Bildung standen, in ihrer Substanz erodierten. 

Es sind Fakten, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten und keine Treueschwüre und Ressentiments. Technik an sich ist eine Illusion. Die Frage ist, wer sie herrscht und zu welchem Zwecke das geschieht. Solange die Diskussion so geführt wird, als sei die Digitalisierung an sich eine Errungenschaft, solange werden die Bilanzierungen aus einer ambitionierten gesellschaftlichen Perspektive in einer Depression enden. Bevor sich die Möglichkeiten entfalten, geht es um Herrschaft und Macht.

Es ist müßig, die aus der technischen Entwicklung entstandenen zivilisatorischen Fortschritte mit dem gleichzeitigen Abrutschen in eine futuristische Barbarei aufzurechnen. Es sei denn, es geht darum nachzuweisen, inwieweit der Einfluss von wirtschaftlicher Macht und einer demokratisch beeinflussten Politik auf die jeweilige Tendenz wirken. Das ist erkenntnisreich und wird empfohlen. Denn diese Erkenntnisse führen zu den richtigen Schlussfolgerungen.

Entscheidend wird sein, inwieweit ein politischer Wille formuliert wird, zu welchem Zwecke technische Entwicklungen genutzt werden sollen und was damit erreicht werden kann. Das muss der Leitgedanke sein, dem res publica folgen muss, will sie nicht abgleiten in diffuse Reaktion auf unbeeinflussbare Kräfte. Unabhängig von der Digitalisierung dokumentieren die Debatten, dass die Politik, die Größe, die die Sache der Öffentlichkeit gestalten sollte, von der letzten Welle der Technisierung an die Wand gedrängt wurde wie nie vorher. Das muss sich ändern.