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Sartres Diktum

In Zeiten, in denen Welten und Weltbilder ins Wanken geraten, ist es ein guter Hinweis, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass die Welt auch im Detail zu finden ist. Ohne am großen Rad drehen zu müssen, können Erkenntnisse durch die Analyse des Profanen gewonnen werden. Und das Profane, da machen wir uns selbst nichts vor, das Profane sind auch wir. Und es es lässt sich nicht bestreiten, dass Zeiten, aus denen ersichtlich wird, dass sie sich überlebt haben, auch an einem Geist gescheitert sind, der sie lange Zeit getragen hat.

In einer solchen Situation seien theoretisch-analytische Betrachtungen empfohlen, die nicht den Schlüssel zum Weltgeschehen in einem verborgenen Großen, wie etwa einem Demiurg oder Weltgeist suchen, sondern die die Individuen ihrer Zeit genau beobachten und daraus ihre Schlüsse zogen. Einer, der dies gemacht hat und zudem, zu aller Abstraktionsfähigkeit noch die Gabe mitbrachte, die ganze Komplexität der Existenz so zum Ausdruck zu bringen, dass sie verstanden werden konnte, war Jean Paul Sartre. Zwei Belege aus seinem Werk mögen reichen, um einen Ansatz anzubieten, der im Moment neue Korridore der Erkenntnis eröffnen könnte.

„Es kommt nicht darauf an,“ so Sartre in seiner Schrift Saint Genet, „was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.“ Dieser Satz, der sich so lapidar anhört, ist insofern revolutionär, als dass er die Verantwortung für das Schicksal des Individuums zurück in den ureigenen Bereich legt. Als hätte er es miterlebt, dass Zustandsbeschreibungen von Subjekten, die sie quasi auf Dauer zu Objekten machen, ausreichen, um ihnen eine gesellschaftliche Legitimation zu geben, weist Sartre diese Verherrlichung des Passiven zurück.

Das Anerkennen fremder Mächte wie gesellschaftliche Verhältnisse, Konventionen, Traditionen oder die nackte Gewalt einzelner Gruppen formen das Individuum, aber es ist in seiner Bestimmung dadurch nicht finalisiert. Sartre leugnet nich den Umstand der Gewalt von außen, aber er besteht auf einer gestaltenden Gegengewalt von innen. Das ist ein Aktionsprogramm gegen alles, was unter dem Titel der Political Correctness subsumiert werden kann. Dort, in deren Kanon, wird der Status Quo aller Opfer auf immer sanktioniert und das Opfer-Sein zum Leitbild erhoben. Im Spiegel zu Sartres Überlegungen zur Existenz des Individuums entpuppt sich der Zeitgeist der letzten zwei Jahrzehnte als eine dramatische Entwicklung zur Entmündigung des Individuums. Das Subjekt wird zum Objekt deklariert und in dieser Rolle glorifiziert.

Ja, Political Correctness ist Herrschaftsideologie, weil sie die Inferiorität derer, die in dieser synthetischen Sprache so absonderlich beschrieben wird, nicht mit der Forderung konfrontiert, diesen Zustand zu ändern. Der ganze Kanon der verbalen Glorifizierung von Einschränkung, Unterdrücktheit und Übervorteilung und das ganze Arsenal an therapeutischen Ansätzen täuscht nicht mehr darüber hinweg, dass es um die Festschreibung der bestehenden Verhältnisse geht. Das ist affirmativ, das sanktioniert die Verhältnisse, die sich momentan als der Zustand herausstellen, der verändert werden muss. Der Bauch ist bereits unterwegs, während der Kopf noch im vergangenen Zeitalter liegt.

In dem wir das, was man aus uns gemacht hat, annehmen und es so formen, wie wir es wollen, überwinden wir die Ideologie der subjektiven Passivität. Sartre drückte das Ganze in seinem Hauptwerk, „Das Sein und das Nichts“, noch prägnanter aus: „Das Sein ist etwas zu Leistendes.“

Die moralische Entrüstung und der Heiligenschein

Noch lange bevor das Phänomen der Political Correctness um sich gegriffen hatte, existierte eine Redewendung, die heute befremdlich klingt, obwohl sie vieles beinhaltet, das nach wie vor bedenkenswert ist. Sie besagte, dass moralische Entrüstung nichts anderes sei als Eifersucht mit Heiligenschein. Die Redewendung bezog sich zumeist auf das Momentum einer kleinbürgerlichen Weltordnung, die es nicht mit ansehen konnte, wenn sich Menschen oder Gruppen das Recht herausnahmen, etwas zu unternehmen, das sich jenseits der Vorstellungen bewegte, was eben diese kleinbürgerliche Lebenshaltung ausmachte. Der Satz traf ins Herz, weil er entlarvte, was sich hinter der heilen Welt einer restriktiven Moralvorstellung verbarg.

Mit dem Aufkommen dessen, was heute in vielerlei Hinsicht als die gängige Moralvorstellung bezeichnet werden muss, ist dieser Satz verblichen. Einerseits durchaus zu Recht, denn wer wollte bestreiten, dass es Grundüberzeugungen gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Vor allem im Kontext von Bürgerrechten wäre es komplett unangebracht, bei ihrer Verletzung und der Empörung darüber so etwas wie Eifersucht zu vermuten. Andererseits ist zu bemerken, dass das Potenzial der Entrüstung aus dem Hause der Intoleranz stammt. Auch wenn die Vorstellung von Menschenrechten eine gute ist, die Reaktion auf ihre Verletzung exklusiv mit der Emotion der Entrüstung zu belegen, lässt Zweifel darüber aufkommen, ob neben dem Gefühl für das Richtige auch so etwas existiert wie eine solide Basis der Vernunft, die dazu befähigen könnte, eine Strategie zu entwickeln, die über eine emotionale Reaktion hinausgeht.

In diesem Kontext der Betrachtung taucht das Problem in voller Größe auf. Denn bis in die Sphären des politischen Handelns hat sich ein emotionales Bacchanal entfacht, das es nahezu unmöglich macht, sich mit den Mitteln der Vernunft für etwas anderes zu entscheiden. Zumeist, und das ist das Frustrierende, bleibt die moralische Entrüstung für sich allein im Raume stehen. Was nützt es, sich über die diktatorische Entwicklung in der Türkei zu echauffieren, sich über den Zaun in Ungarn zu mokieren, oder sich über die verbalen Eskapaden eines US-Präsidenten zu erzürnen, wenn daraus nicht nur keine Reaktion entsteht, sondern auch keine politische Agenda folgt? Was bleibt, ist ein dumpfes Gefühl. Das Gefühl, im Recht zu sein, das Gefühl, auf jeden Fall auf der richtigen Seite zu stehen und letztendlich das Gefühl, dass die Welt eine schlechte ist.

Und gerade letzteres bildet den Korridor für Irrationalismen, die letztendlich in keine gute Richtung weisen. Eine Politik, die sich damit begnügt, lediglich dafür eine Zustimmung zu bekommen, dass sie moralisch auf der richtigen Seite steht, aber aus dieser Haltung keine praktische Folgen resultieren, führt zu einer Reaktion, die so nicht beabsichtigt ist, die aber zur Konsequenz hat, dass immer mehr Menschen, die hautnah spüren, dass die Ursachen der Aufregung über die Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse dazu führt, sich denen zuzuwenden, die praktische Folgen versprechen. Diese Versprechungen mögen noch so unsinnig sein und sie mögen auch nicht das Zeug haben, die tatsächlichen Lebensverhältnisse zum Besseren zu verändern, aber sie bergen die Hoffnung, dass sich etwas ändert. Das tödliche Gift, das nach der moralischen Entrüstung zu wirken beginnt, ist die politische Passivität, die diesem emotionalen Akt folgt. Um es deutlich zu sagen: sich aufregen, aber nichts ändern, das führt zu nichts. Das bestätigt nur die Vermutung, fehl am Platz zu sein.

Toleranz ohne Prinzip?

Alljährlich, im November, geht es nicht nur auf die Friedhöfe. Nein, die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten haben es sich zur Tradition gemacht, ein besonderes Thema von möglichst vielen Seiten zu beleuchten. Die Kriterien für die Auswahl der Themen liegen nicht offen, die Abfolge ist zuweilen etwas skurril, wenn nach dem Tod die Toleranz folgt. Wie dem auch sei. Der Vorwurf an die staatlichen Monopolmedien, nicht mehr als Faktor demokratischer Kontrolle zu agieren, sondern zunehmend Positionen zu beziehen, die eher an Hausverlautbarungen der Macht erinnern, muss auch anhand der Themenwochen näher beleuchtet werden. Dient dieses Format der Aufklärung und moralischen Bildung, oder entmächtigt es diejenigen, die es erreichen soll?

Die gegenwärtig in der ARD angelaufene Sendungswelle zum Thema Toleranz ist hoch spannend, weil es um eine der brisantesten Fragestellungen in einer globalisierten Welt geht. Trotz der Diversität gesellschaftlicher Erscheinungsformen und trotz einer Interdependenz nahezu aller Handlungsfelder muss international, national, gesellschaftlich wie individuell ein Modus Vivendi gefunden werden, um Kommunikation und Interaktion zu gewährleisten. Kommunikation und Interaktion gelingen nur, wenn die Interagierenden das Prinzip der Gegenseitigkeit als Basis für den Verkehr anerkennen. Das ist in einer Welt, in der zunehmend fundamentalistische Heilsbringer unterwegs sind, nicht immer gegeben und das macht die Sache so schwer.

Toleranz ist wahrscheinlich das höchste Gut der Aufklärung. Es ist daher ratsam, sich des Verständnisses zu bemächtigen, das sie bei Protagonisten wie Immanuel Kant generierte. Die Grundlage für das Prinzip der Anerkennung der Verschiedenheit entsprang der Annahme, dass es unterschiedliche Wege zur Wahrhaftigkeit gäbe. Kant ging davon aus, dass bei dem Prozess der gesellschaftlich rechtschaffenden Verhaltensweise unterschiedliche Wege und selbstverständliche Irrtümer einzukalkulieren seien. Der gemeinsame Wille jedoch zöge die Linie, ob Toleranz zu walten habe oder Standhaftigkeit erforderlich sei. Diese Erkenntnis hat sich zwar bis in die neuesten Ansätze der Kommunikationsforschung gehalten, bei denen von einer gemeinsamen Intentionalität als Voraussetzung gelingender Interaktion gesprochen wird, nicht aber bis in die intellektuellen Gemüsebeete der Political Correctness.

Vieles, was bereits zur Unterstützung des ARD-Programms in den Radiosendern eingespielt wurde, deutet in eine Richtung, die mit der aufklärerischen Dimension der Toleranz nichts gemein hat. Toleranz in dem geschilderten Sinne ist eine Hochleistung an Duldungsdisziplin angesichts sehr genau beschriebener Prinzipien, denen sich das Individuum wie die Gesellschaft verpflichtet fühlt. Toleranz, wie sie nun kolportiert wird, ist Duldsamkeit ohne Prinzip. Duldsamkeit ohne Prinzip jedoch ist das Schlimmste, was in einer Demokratie geschehen kann. Ohne Klarheit darüber zu besitzen, was der Zweck des gesellschaftlichen Prozesses ist, dem alle unterliegen, wird die Verabsolutierung der Duldsamkeit eine Referenz für das Untertanentum.

Folglich wird sehr genau zu beobachten sein, inwieweit in den geplanten Beiträgen eine gemeinsame Intentionalität nicht nur eingefordert, sondern auch beschrieben wird. Unterbleibt dieses, dann haben wir es mit einem Propagandastück zur Unterwerfung zu tun. Die politische Programmatik, alles zu erdulden, ohne zu fordern, ist ein dreistes Stück. Die spannende Frage wird sein, ob es aufgeführt werden wird und wenn ja, mit welchem Erfolg. Die spirituelle Essenz der bürgerlichen Gesellschaft, dass das Sein etwas zu Leistendes ist, wäre passé. Was dann übrig bleibt ist Despotie, ein Prinzip der Willkür, das sich definiert aus der Wehrlosigkeit derer, die es ertragen müssen.