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Grooven im Takt eines archaischen Wikingerschiffes

Manches löst sich auf, anderes baut sich auf. Das voraussichtliche Ausscheiden Russlands aus dem Turnier und der friedliche Verlauf des Spiels gegen die Slowakei wurde umrahmt von erneuten Krawallen englischer Fans, die aber unter Artenschutz stehen, bis die Abstimmung über den Brexit erfolgt ist. Da Russland verloren hat ist die Abreise des damit verknüpften Publikums in der nächsten Woche wahrscheinlich, das Thema ist insgesamt lästig, aber es kategorisch aus dem Fokus des Fußballs verbannen zu wollen, kommt einer Illusion gleich.

Die anfangs vermissten Highlights sind zumindest für kurze Augenblicke aufgetaucht. Vor allem die Teams kleiner Nationen, die zum ersten Mal bei einem solchen Turnier sind und denen kaum eine Chance im Konzert mit den Großen zugestanden wird, haben nicht nur ansprechenden Fußball gespielt, sondern glänzten vor allem durch die Kongruenz der Begeisterung auf den Rängen wie auf dem Feld. Nordirland versprühte Enthusiasmus pur, Island groovte im Takt eines archaischen Wikingerschiffes und Albanien übte italienische Zivilisation fast bis zur Perfektion ein.

Und das ist eine Quintessenz! Die vermeintlich Kleinen gleichen sich nicht in ihren Unzulänglichkeiten, über die die Etablierten nur milde lächeln können. Die Kleinen weisen unterschiedliche Stärken auf, und manche davon sind so rar, dass die Großen es gut vertragen würden, wenn sie etwas davon abhätten. Die nordirische Begeisterung vermittelt eine Spielfreude, die sofort auf die Ränge zurückspringt, die Isländer spielten taktisch wie die Profis, hatten aber eine Athletik aufzubieten, die zeigte, inwieweit die Archaik das metropolitane Fitnessstudio überragt und Albanien hat gezeigt, wie perfekt es möglich ist, die Strategie und Taktik einer ganz großen, benachbarten Fußballnation zu implementieren.

Gastgeber Frankreich tat sich eine Halbzeit lang schrecklich schwer gegen gut organisierte Albaner, bis Trainer Didiers Deschamps die Züchtigung Pogbas nicht mehr durchhielt und ihn zurück aufs Feld holte. Das schlaksige Jahrhunderttalent dankte es mit unkonventionellen Flanken und Vorlagen, der zuletzt müde wirkende Griesman köpfte in der letzten Minute die Führung und der immer mehr zum Helden avancierende Payet erhöhte in der Nachspielzeit auf 2:0. Frankreich ist dadurch nicht nur bereits im Achtelfinale angekommen, sondern auch im Turnier. Die zweite Halbzeit gegen Albanien war eine deutliche Steigerung und das Spiel mutierte von einem Brettspiel zu einer Feldschlacht. Wie in der Marseillaise eingefordert, scheint Frankreich nun zu marschieren.

Immer wieder tauchen im Orkan Meldungen auf, von denen man glauben könnte, sie hätten mit dem Turnier nichts zu tun, sondern sie entstammten dem Regiebuch der europäischen Politik. Da war zum Beispiel der Sieg Ungarns über Österreich, mit dem keiner gerechnet hatte, der aber irgendwie die Triebkräfte des gegenwärtigen Europas so passgenau trifft. Da stößt die zerbrochene alte Allianz aufeinander und das an der Modernisierung erkrankte Österreich strauchelt an der Traditionsnostalgie des alten Vasallen. Absurder geht es nicht, treffender aber auch nicht.

Frankreich, das gebeutelte, das mal schematisch den Routinen folgt und mal emphatisch ums Überleben kämpft, dieses Frankreich liefert bis dato genau die Spiele ab, die dieses Szenario untermauern. Und daraus leitet sich die Frage ab, wie weit das reicht in einem konkurrierenden System, um immer noch mit von der Partie zu sein? Wann wird die Routine zum tödlichen Gift und wann wird aus dem Überlebenskampf entweder der finale Triumph oder die letzte vergebliche Anstrengung. Fragen über Fragen, die, so lange sie nicht beantwortet werden können, brennen und brennen.

Ein kleiner Funken Glück

Jacques-Yves Henri erklärte einmal, warum die Franzosen den Hahn als Wappentier besäßen. Der Grund sei, dass es sich dabei um den Vogel handele, der noch singe, auch wenn er bereits mit beiden Füßen im Dreck stehe. Insofern boten die Bilder, die Frankreich gestern im Rahmen des EM-Auftaktes lieferte, ein Panorama, das dem entsprach. Viele Französinnen und Franzosen sind gewillt, zu singen, aber sie stehen tatsächlich mit beiden Beinen im Dreck. Die Gefahr weiterer terroristischer Angriffe auf zivile Ziele hängt wie ein Damoklesschwert über allen Aktivitäten und die wirtschaftliche Lage, in die momentan heftige soziale Kämpfe eingebettet sind, ist nicht dazu geeignet, von einer rosigen Zukunft zu sprechen.

Immer schwebt die These im Raum, der Fußball skizziere sehr gut die allgemeinen gesellschaftlichen Ströme in der Art und Weise, wie er gespielt werde. Insofern war auch der Auftritt der Equipe Tricolore gegen eine solide und konzeptionell durchaus konsistente rumänische Mannschaft ein Beleg für diese These. Das französische Team hat das Spiel erwartungsgemäß gewonnen, dabei aber große Mühen gehabt. Ein System oder gar eine Philosophie war dabei nicht erkennbar, im Grunde fuhr man auf Sicht, eine Metapher, die wir diesseits des Rheins gut aus der Politik kennen, welche allerdings für den deutschen Fußball im Gegensatz zur Politik nicht stimmt. Kompensiert wurde die Konzeptionslosigkeit auf französischer Seite durch individuelle Klasse. Und erlöst wurde das Team durch zwei heroische Interventionen eines Durchschnittsfußballers.

Eröffnungsspiele haben ihre eigene Güte. In der Regel besteht sie darin, dass alle Beteiligten hinter den großen Erwartungen zurückbleiben, weil es einfach um zu vieles geht. Niemand wagt sich so weit vor, dass es ihm zum Nachteil gelangen könnte. Danach, so heißt es, ist man im Turnier. Lassen wir die Plattitüden also so im Raum stehen und warten ab, wie es weiter geht. Das gestrige Spiel als Testat über den französischen Zustand hat dennoch seinen Reiz, weil es dokumentierte, dass es dem Land zur Zeit an einer Konsens getragenen Programmatik fehlt, mit der die Zukunft gestaltet werden soll. Ein System mit einer Brechstange Giroud wird nicht zum Erfolg führen, übrigens genauso wenig wie ein analoges mit Gomez bei Transrhenania, die Zeiten des bulligen Mittelstürmers sind bis auf die eine oder andere Nische vorbei. Die technische und taktische Brillanz einer modernen Abwehr steht dem entgegen und eine kollektiv inszenierte Flexibilität vermag die Möglichkeiten des Angriffs zu potenzieren.

Insofern war das Eröffnungsspiel gestern noch einmal ein Einblick in die Annalen des antiquierten Fußballs. Sollte das so bleiben, dann stünde Europa still, was nicht der Fall ist. Dass in der Krise gerne auf alte Rezepte zurückgegriffen wird, ist nichts Neues. Aber nur in seltenen Fällen, die eher die Ausnahme sind, hilft es auch. Gestern wurde der französische Hahn von einem in Réunion geborenen Spieler namens Dimitri Payet aus der Scheiße gerissen. Von ihm kam die Flanke zum Führungstor von Giroud und er erlöste mit einem Fernschuss die im Habitus der Grande Nation versammelte französische Öffentlichkeit nahezu mit dem Schlusspfiff. Payet, der in der letzten Saison quasi für ein Nasenwasser zu den Rohfleischfressern der britischen Insel, genauer gesagt nach West Ham United gewechselt hatte, rettete Frankreich vor der Blamage. Der Dutzendsöldner war von seinem eigenen Fortune so ergriffen, dass er weinte. Und das war wiederum Weltgeschichte. Wie oft es es so, dass keiner weiß, wie das alles kam und was das alles soll und dann ein kleiner Funken Glück im Trauma endet?