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Wie vor dem arabischen Frühling?

Morgens, wenn es noch kühl ist und sich noch wenige Menschen aus dem Haus gewagt haben, existiert eine besondere Atmosphäre auf der Straße. Die Wenigen, die sich begegnen, nicken sich zu wie Wissende, wie Mitglieder einer verschworenen Gemeinschaft, auch wenn sie sich gar nicht kennen. Ein Sprichwort aus dem Orient besagt, wer früh aufstehe, dem gehöre die Welt. Es ist dieses Gefühl, das sich derer bemächtigt, die früh unterwegs sind. Sie fühlen scheinbar, dass die Freiheit zu diesen Stunden größer ist. Es herrscht, wenn man so will, die Stunde der Anarchie. Die einzige Ordnung, die existiert, ist die im eigenen Kopf. Die Hinweise auf die unzähligen Regelwerke, die in jeder Stadt anzutreffen sind, haben keine Macht. Und das Erstaunliche: es geht friedlich zu, die Menschen begegnen sich mit Verständnis und die Wenigen, die meinen, das Vertrauen jenseits der Regeln missachten zu können, werden freundlich, aber bestimmt zur Räson gerufen, ohne dass eine institutionalisierte Ordnungsmacht zu Hilfe gerufen werden müsste.

Manchmal wird die Stille dann doch durch einen Dialog durchbrochen. Der am heutigen Morgen war wieder so einer, der jenseits des Profanen spielte und die Frage aufwirft, wieviel philosophische Tiefe in dem steckt, was vor der Inquisition der gemeine Mann gemannt wurde. Da rief, über drei Häuser hinweg, ein Bewohner, rauchend, aus seinem Fenster, quer über die Straße einem anderen, der der gleichen Tätigkeit nachging, ein dunkles Guten Morgen zu, das er mit der Frage verband, wie es ihm gehe, in seiner Welt. 

Meine Welt, so der Befragte, ist längst untergegangen. Insofern lebe ich außerhalb meiner eigenen Zeit. Und das sei sehr befreiend. Wow, so der andere, du bist ja am frühen Morgen richtig in Form.  Worauf der andere antwortete, einem Esel, zudem einem, der sich immer noch dem Rauchen hingebe, könne man das Denken nicht verbieten. Und er schloss mit der Gegenfrage: Und selbst?

Der antwortet prompt: ich warte. Gegenfrage, immer noch aus dem jeweils dritten Stock, quer über die Straße, deutlich und laut: Worauf? 

Und dann folgte eine etwas längere Erklärung, in der der Mann, der jetzt, beim Fortschreiten der Erzählung, durchaus als ein arabisch-stämmiger, aufgrund seines Akzentes aus dem Kölner Raum stammender Mann im weißen Doppelripp-Unterhemd klassifiziert werden kann. Er führte aus, dass er einmal nachgerechnet habe. Demnach dominiere in diesem Land ein Milieu mit maximal 6 Millionen Menschen die öffentliche Meinung wie die Politik. Lass dir das auf der Zunge zergehen! Bei einem Volk von 84 Millionen! Das könne nicht gut gehen. 

Darauf sein Gesprächspartner, seinerseits so nativ wie das italienische Olivenöl: Wieso nicht? Du siehst doch, alles easy, kein Schwein regt sich auf, die Stricken schon alle Pullover, die Kamele, da kannst du nichts machen.

Die Antwort kam prompt: Ich habe das schon mehrmals auf meinem langen Weg hierher erlebt: Wenn eine Minderheit alles dominiert und niemand sie daran hindert, dann wird sie egoistisch, elitär und korrupt. Dabei kochen die auch nur mit Wasser, wenn überhaupt! Stört man sie bei diesem Prozess, dann werden sie gewalttätig und lassen die Panzer auffahren. Glaub mir, Nachbar, ich war Zeuge des arabischen Frühlings, da war die Lage überall genau so wie jetzt hier. Da fehlt nur ein Funke, und die ganze Chose wird zum Flächenbrand. 

Sprach es und schnippte seine brennende Kippe aus dem Fenster auf die Straße. Dann winkte er dem anderen zu, trat zurück und schloss das Fenster. Der andere schmunzelte vor sich hin, blickte zunächst nach links, dann nach rechts, und tat es dann seinem Gesprächspartner gleich. Was blieb war eine leere Straße, ein nachdenklicher Zuhörer, der seinen Weg fortsetzte, und eine angenehme Kühle. 

Die Ordnung im eigenen Kopf

In unterschiedlichen Kontexten wird zunehmend davon gesprochen, dass die Ordnung verloren gehe. Rein gefühlsmäßig werden viele Menschen dieser Behauptung sicherlich zustimmen. Vieles, was als normal empfunden und gegeben angesehen wurde, scheint in Auflösung zu sein. Bei genauerem Nachfragen wird man sich jedoch einer allgemeinen Schwammigkeit bewusst. Was, so die Frage, ist denn diese oder jene Ordnung, die sie so vermissen? Selten, sehr selten kommen da Antworten, die bestimmt sind und von allen geteilt werden. Wäre man böswillig, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Vorstellung von Ordnung eine bloße Fiktion ist.

Dass dem nicht so ist, beweist die Struktur des Staates. Da existiert eine Ordnung, da existiert eine Gewaltenteilung, und wenn von Gewalt die Rede ist, dann ist es im staatlichen Sinne organisierte Macht. Ob die ins Wanken geraten ist, ist eine andere, aber anscheinend weniger drückende Frage. Zwar sind in bestimmten Segmenten der staatlich organisierten Macht Auflösungserscheinungen zu beobachten. Ob diese repräsentativ sind, wird sich noch herausstellen. Und, nebenbei, was in einer solchen Situation den befürchteten Niedergang beschleunigt, dass sind gesellschaftliche Spaltungsappelle, und an diesen wiederum mangelt es nicht. Nahezu das gesamte politische Lager spürt, dass da etwas in Bewegung geraten ist und sucht sich zu retten, indem es nach dem Prinzip des Divide et impera Keile in die Gesellschaft treibt. 

Was bei den üblichen Betrachtungen eher aus dem Blickfeld gerät, ist die Frage nach der inneren Ordnung. Sind die Individuen in einer bis zum Exzess individualisierten und dennoch gleichgeschalteten Gesellschaft im Besitz einer eigenen, inneren Ordnung? Oder ist das, was als anthropologische Konstante gilt, bereits zerstört? Wenn dem so wäre, müsste niemand mehr über die Auflösung bestehender Ordnung klagen. Dann wäre längst alles dahin. Denn wenn die Atome dysfunktional sind, dann funktioniert auch nicht das gesamte Modell.

Das, was als anthropologische Konstante so lapidar in den Raum geschoben wurde, ist ein unabhängig von der jeweiligen kulturellen und zivilisatorischen Spezifik existierender humaner Konsens darüber, was sich als Mensch ziemt zu tun und was nicht. Das Erstaunliche dabei ist eine nahezu global flächendeckend herrschende Vorstellung davon, was zu einer funktionierenden Ordnung menschlichen Zusammenlebens gehört. Das, was dabei tief bewegt, ist die allexistierende Vorstellung dessen, was im Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant so kurz wie eingehend formuliert wurde. Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann.

Die bestehenden politischen Ordnungen, die auf der Welt etabliert sind, spiegeln diesen Konsens nicht unbedingt wider, und, auch das ist festzustellen, viele Menschen in den unterschiedlichen Kulturkreisen und Zivilisationen halten sich auch nicht daran. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass das Bestreben und der Wunsch nach sozialer Ordnung nach einem streng selbstdisziplinarischen, aber auch libertären Prinzip global vorherrscht. Wünsche, Sehnsüchte und Visionen sind stärker als die organisierte Gewalt, denn sie sind in der Lage, sich in eine ebensolche ungeahnten Ausmaßes zu materialisieren. Noch, so könnte man sagen, ist nichts verloren.

Die Vorbedingung dazu ist die eigene Ordnung. Die im Kopf und in der eigenen Gefühlswelt. Wer in der Lage ist, sich selbst, ohne Fremdeinwirkung, zu regieren, dem wird es gelingen, auch über andere Projekte zu räsonieren. Wer aber mit sich selbst nicht fertig wird, wie es so schön heißt, der sollte sich mit anspruchsvolleren Zielen noch etwas Zeit lassen.