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Geschichten aus dem Endstadium

Wir leben in brillanten Zeiten. Zumindest für Karikaturisten und Satiriker. Das Problem, für das wir selbst verantwortlich sind, ist die eigene Wahrnehmung. Wir glauben tatsächlich, dass das, was wir täglich sehen und erleben, identisch ist mit dem, was landläufig als die Realität bezeichnet wird. Das ist der Trugschluss unserer Tage. Denn das, was wir sehen, ist noch lange nicht das, was tatsächlich ist. Wäre dem wirklich so, so befänden wir uns bereits längst in der lodernden Hölle.

Ausgerechnet der türkische Staat ist es, seinerseits eine der neuesten Versionen der Presse-Inquisition, der dem ölgetränkten Königreich der Saudis nun vorwirft, die Freiheit der Presse zu gefährden. Es geht um den spurlos verschwundenen arabischen Journalisten Khashoggi, der von türkischem Boden aus Kritisches über seine saudische Heimat schrieb.

Die Saudis ihrerseits wiederum gingen ganz gemütlich mit dem Vorwurf um. Mit rauer Wüstenstimme schufen sie ein für den Westen in seiner Unbefangenheit neues Narrativ. Demnach hatten sie eine kleine Folterdelegation in das Reich Onkel Osmans geschickt, um dem Querulanten, den man von der Straße weg ins Räuberhauptquartier der eigenen Botschaft entführt hatte, ein paar Fragen zu seinem lästerlichen Treiben zu stellen.

In der offen geäußerten Version der Saudis sei das Verhör aber leider ein bisschen schief und aus dem Ruder gelaufen, und der Redakteur mit dem Namen des weltweit größten und berüchtigten Waffenhändlers hauchte plötzlich das Leben aus. Weitererzählt wird die schauerliche Schmonzette dann vom türkischen Geheimdienst, der seinerseits davon ausgeht, dass die Überreste des schief gegangenen Interviews mit einer Heimwerkersäge zerkleinert und in kleinen Portionen aus der Botschaft heraus entsorgt worden seien. Das Rätsel, das bleibe, sei der Verbleib der schwarzen Fracht.

Präsident Putin wiederum, der Schauplatz hat sich nun geändert, Präsident Putin, der Kühle aus dem Reich des Nordens, wurde nun dabei ertappt, dass er sich hat gehen lassen. Und zwar in der Wortwahl gegenüber einem ehemaligen russischen Spion, der die Seiten gewechselt hatte. Der hieß Skripal und erfreute nun mit seinem Wissen den britischen Geheimdienst. Dieser konnte das Plappermaul zwar nicht schützen, denn mitten auf dem Territorium seines neuen Exils wurde er vorübergehendes Opfer eines Giftgasanschlages, vermeintlich begangen von ihrerseits russischen Agenten.

Letztere, die man dafür hielt, wurden in Russland aber als harmlose Fitnesstrainer identifiziert, die aus privater Initiative nach Südengland gereist waren, um die Lage auf dem Freizeitsportmarkt auszutarieren. Dass beide einmal Offiziere der russischen Armee waren, hat damit wenig zu tun. Was jedoch hängen bleibt, ist Putins Äußerung über Skripal. Es handele sich, so der mächtigste Mann Russlands, um einen Drecksack, der sein Land verraten habe.

Bliebe noch ein kleines Licht aus dem eigenen Land. Da wieherte ein Mann des Volkes von der bayrischen Wahlkampfbühne die Gefahr ins Land, wer aus Schwarzafrika einreise sei wahrscheinlich mit HIV positiv infiziert. Daher wolle er genau wissen, was los sei, wenn so ein Neger ihn auf der Straße anküsse.

Es empfiehlt sich, schleunigst damit zu beginnen, die Symptome der intellektuellen Erosion, unter der wir alle aus welchen Gründen auch immer zu leiden beginnen, in einem Journal zu dokumentieren. Solle es jemals Nachkommen welcher Form auch immer geben, die unsere Sprache werden entschlüsseln können, sie würden es nie glauben, was wir uns im Endstadium erzählt haben.

 

Mesut und Ilkay bei Onkel Osman

Wie sehr galten sie als Beispiele für ein gelungenes Projekt der Integration. Die Fußballer mit Migrationshintergrund, wie es die verschwurmelte Sprache der Umschreibung ausdrückt. Gerade ein Mesut Özil wurde immer wieder als leuchtendes Beispiel genannt, weil sein erfolgreiches Auftreten in der deutschen Nationalmannschaft identitätsstiftender sei als die Bemühungen soundso vieler Integrationsprogramme. Doch, wie das Leben so spielt, und so treffend es Frank Sinatra beschrieb, „riding high in April, shot down in May“. Leider, leider haben gerade Mesut Özil und der aus der gleichen Gelsenkirchener Zechensiedlung stammende Ilkay Gündogan mit einem Schlag die große Illusion platzen lassen wie einen Ballon auf einem Kindergeburtstag.

In einem Londoner Hotel trafen sie den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, seinerseits nicht nur dauerhafter Brecher des Völkerrechts, sondern auch der, der die Gleichschaltung des türkischen Staates nach dem Muster der faschistischen Machtergreifung in Deutschland betreibt. Hunderttausende sitzen ohne Verfahren in den überfüllten Gefängnissen, darunter nicht wenige Richter und ehemalige Staatsanwälte, darunter Journalisten und darunter auch Fußballer, die es gewagt hatten, sich kritisch zu äußern. 

Aus taktischen Gründen, weil die Opposition momentan aufgrund der Massenverhaftungen und der kriegerischen Akte in Syrien ein bißchen schwächelt, hat eben dieser Erdogan Neuwahlen anberaumt, für die er nun auf Werbetour geht. Unter anderem bei den Auslandstürken, denn ihre Zahl geht in die Millionen, sie haben nicht direkt unter dem diktatorischen Terror zu leiden und sie verbindet eine nostalgische Erinnerung an die alte Heimat.

Just in diesem Moment tauchen Özil, Gündogan und Tosun auf, um Erdogan zu begrüßen wie den lieben Onkel Osman, der aus der alten Heimat rübergekommen ist, um seine verlorenen Söhne zu begrüßen. Und artig tanzen sie, an, sprechen ihn mit Herrn Präsident an und überreichen ihm auch noch ein Trikot mit einer netten Widmung. 

Es geht nicht darum, sich moralisch zu empören, sondern es geht darum zu erkunden, was passieren kann, obwohl eine Biographie so verlaufen ist wie die der beiden Gelsenkrichener. Aufgewachsen als typische Vertreter der Arbeiterklasse in einem fremden Land, Straßenfußballer, der Aufstieg durch den Fußball bis zum Status als Multimillionär. Aufgewachsen in einem Land, dass auf seine demokratischen Werte verweist, nicht ohne selbst unter ständigen Unterminierungsversuchen zu leiden. Dennoch: Irgend etwas hätte hängen bleiben müssen, bevor sich Menschen mit einer solchen Biographie zu einem Werbetermin für einen Diktator hinreißen zu lassen, oder? Mit alleiniger Armut im Geiste kann es jedenfalls nicht erklärt werden.

Der Auftritt hat zu Recht zu einer heftigen Diskussion geführt. Es deutet sich jedoch an, dass nicht Fragen nach der Zukunft gestellt werden, d.h. wie mit dem Phänomen nostalgisch verklärender Gefühle von Einwanderern in Bezug auf ihre alte Heimat politisch umgegangen werden kann. Nein, es geht, wie immer, um die rückwärtsgewandt Frage danach, wer was falsch gemacht hat. Warum werden die Spieler nicht direkt gefragt und kritisiert? Das wäre doch einmal etwas. 

Der Ruf nach Nichtnominierung für die Nationalmannschaft ruft das alte Problem hervor, dass niemand sanktioniert werden kann für eine Straftat, die als solche nicht existiert. Selbst Minister der Regierung haben schon mit dem Erdogan-Machtzentrum gefreundelt und wurden nicht belangt. Die Spieler selbst haben sich keinen Gefallen getan, denn die Sympathie ist bei vielen dahin. Jedes Tor, dass sie schießen, wird mit eisigem Schweigen kommentiert werden und jeder Fehler, den sie machen, wird von dem enttäuschten Publikum mit Gold aufgewogen werden. Zu Recht.