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Die ödipale Aversion gegen den Staat

Es ist schon eigenartig: Deutschland, der Kontinent der staatlichen Organisation, wird in seinem politischen Handeln von einer Aversion geprägt, die nirgendwo sonst in diesem Maß zum Vorschein kommt. Das Land, das seit der späten, lang ersehnten und überfälligen Nationenbildung zu einem Staatswesen kam, machte dann so ernst, dass daraus für viele gleich eine Bedrohung wurde. Der Staat, schon im frühen Stadium mit dem Attribut des Vaters versehen, wurde für die einen die für alles sorgende Instanz, für die anderen das Synonym für Gängelung und Bevormundung.

Otto von Bismarck, der eiserne Kanzler und Fürst mit dem historischen Weitblick, verstaatlichte den von der mächtigsten Sozialdemokratie der damaligen Welt artikulierten Emanzipationsgedanken und gemeindete alles ein, was in freier, nicht staatlicher Assoziation auch hätte geschehen können. Die Sozialgesetzgebung jedoch integrierte die Koalitionsformen der Arbeiterbewegung in das fein abgestimmte Räderwerk der ehemals preußischen Bürokratie und zog ihnen damit die Zähne.

Daraus entstand bereits früh eine Ambivalenz im Volk, das teils stolz, teils erschreckt auf den staatlichen Wohltäter reagierte. Die in deutschen Landen etablierte dirigistische Administration führte selbst dazu, dass ein Revolutionär wie Lenin eine Theorie entwickelte, die ihm zwar taktisch von Nutzen war, die spätere revolutionäre Bewegung im Rest der Welt jedoch in die tödliche Irre führte. Er beschrieb die Verstaatlichung aller Leistungen als eine nahezu geniale Vorstufe für die Sozialisierung im Sinne der sozialen Emanzipation, ohne darüber zu reflektieren, dass ein staatlicher, kapitalistisch sozialisierter und hierarchischer Apparat die Dinge in dieser WWelt vielleicht anders ordnet als es eine Assoziation von Freien täte.

Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus war dann auch ein Grund dafür, dass es mit der deutschen Revolution für immer vorbei war. Die Vorstellung, ein Gemeinwesen anders organisieren zu können als mit strengen Hierarchien, absoluten Verallgemeinerungen und universalem Bestandsdenken verdrängte die Phantasie. Den einen, die eine starke Autorität nicht missen wollten, war es recht und ein Segen, den anderen die Zumutung schlechthin.

So organisieren und diskutieren wir in diesem Land zumeist in dem Spannungsfeld zwischen staatlichem Absolutismus und Anarchie, die einen sehen das Übel in zuwenig, die anderen in zuviel des staatlichen Zugriffs. Was den einen der positive Begriff des Vaters Staat ist, ist den anderen die ödipale Aufforderung, denselben zu meucheln, wo es nur geht.

Die Belastung der Diskussion durch die historischen Markierungen von Kaiserreich, Weimarer Republik, Faschismus, BRD und DDR verstellen den Blick für neue Organisationsformen für den gesellschaftlichen Wandel. Und wie in dem Spiel, in welchem die Akteure wie von Teufels Hand getrieben ausgerechnet dann zum falschen Mittel greifen, wenn sie eine Möglichkeit haben, eine neue Situation zu schaffen, setzen wir genau dann auf den Staat, wenn es angemessen wäre auf die Freiheit zu setzen und dann auf die Freiheit, wenn ein kollektiver Ordnungswille vonnöten wäre. Um diesen Circulus vitiosus verlassen zu können, wäre es erforderlich, die Bürgerinnen und Bürger zu befähigen, ihre Entscheidungen aufgrund einer tiefen Reflexion über ihr individuelles Handeln und dessen Auswirkungen auf das Ganze zu treffen. Doch da setzt das politisch handelnde Establishment auf den Akt der Bevormundung und sät weiter den Keim der ödipalen Aversion gegen den Staat.