Schlagwort-Archive: Nordafrika

Komplott im Kartenhaus

Wir haben es aufgegeben von Gesetzmäßigkeiten im Verlauf von Geschichte zu sprechen. Das hat zu schlimmem Dogmatismus geführt, weil so manch ganz Schlaue immer schon wussten, wohin der Lauf der Dinge führt und mit ihrer vermeintlichen Gewissheit viele Menschen hinter das Licht oder in geistige Abhängigkeit führten. Und obwohl das Phänomen Geschichte nicht so erklärbar ist wie die Vorgänge in einem Chemielabor, so weist es doch Muster auf, die sich aus den Prinzipien menschlichen Handelns und Fehlens ableiten lassen und die immer wieder kehren, ob im alten Rom, in den zeitgenössischen Machtmetropolen Washington oder Moskau oder eben auch in der Türkei.

Da, so überschlagen sich momentan die Meldungen, faucht derzeit ein Tayyip Recep Erdogan, derzeitiger Ministerpräsident, über das größte Komplott in der türkischen Geschichte. Natürlich ist dieses Komplott gegen ihn gerichtet und natürlich kommt es aus den USA, auch wenn dahinter ein Landsmann steckt. Muster Nummer Eins könnte nicht präziser formuliert werden: Gerät ein Machthaber, zudem einer, der sich mehr und mehr absolutistisch definiert, ins Schlingern, so hat er selbst keine Fehler gemacht, sondern andere, schlimme Finger haben ihn damit behaftet, und zwar aus dem Ausland.

Erdogans AKP, die vor gut zehn Jahren zum ersten Mal die Wahlen in der Türkei gewinnen konnte, hatte nicht nur einen politischen, sondern auch einen moralischen Neuanfang in der Politik versprochen. Mit sehr hohen ethischen Ansprüchen, die in eigenen Bildungsinitiativen für die Kader realisiert wurden, sollte das Land modernisiert werden, ohne die traditionelle, in den Kanon des Islam vertrauende Landbevölkerung zu verlieren. Dabei gab es ein Bündnis und eine Arbeitsteilung, die in diesen Tagen aufbricht und die nie formellen Charakter hatte. Während Erdogan, der einstiger Sesamkringelverkäufer und Upcomer aus den informellen Zonen Istanbuls, das politische Ressort übernahm, kümmerte sich der in den USA lebende Islamgelehrte Fetullah Gülen um die ethische Festigkeit von Kader und Staatsapparat.

Tatsächlich gelang vieles in der Türkei: Die Korruption vor allem im Bausektor und bei der Vergabe von Ämtern wurde zurückgedrängt, das Bankenwesen wurde schonungslos reformiert und ist heute weitaus seriöser als manches im Zentrum Europas, die Kurden wurden zum großen Teil entkriminalisiert und das Bildungswesen wurde radikal modernisiert. Wirtschaftlicher Aufschwung und politische Stabilität führten zu großer Zustimmung für die AKP wie Ministerpräsident Erdogan. Der Fortschritt in der Türkei führte zu sozialen und sozio-kulturellen Veränderungen, mit denen zumindest der Architekt Erdogan selbst nicht gerechnet hatte. Die ökonomische Internationalisierung des Landes zeitigte eine Teilhabe an internationalen Krisen und die vor allem in den Metropolen Istanbul und Izmir entstandenen jungen, akademischen und weltoffenen Eliten kamen mit Ansprüchen daher, die weil jenseits des bekannten Traditionalismus lagen. Den wirtschaftlichen Schwierigkeiten begegnete Erdogan mit einem schrittweise immer aggressiver formulierten neuen osmanischen Imperialismus, den er vor allem in Nordafrika während der Arabellion vortrug und den neuen Eliten im eigenen Land versuchte er mit dem Schlagstock beizukommen.

Vor allem letzteres nahm ihm der an hohen ethischen Ansprüchen festhaltende Fetullah Gülen übel. Leute aus diesem Bildungssektor sind es auch, die nun gegen die neue Nomenklatura der AKP vorgehen, die sich allzu schnell an des System angeglichen haben, das sie vor zehn Jahren noch so vehement zu bekämpfen suchten: Ein Netzwerk korrupter Politiker, die das Staatswesen den Hunden zum Fraß vorwerfen. Während Erdogans ideologisches Kartenhaus zusammenfällt, spricht dieser von einem Komplott. So einfach ist das nicht und die jetzige türkische Krise ist eine weitaus tiefere, als es noch erscheint. Sie sollte uns alle besorgen.

Wachsender Druck im nordafrikanischen Kessel

So, als lebten wir in Wolkenkuckucksheim, erzählen unsere Nachrichten wie gewohnt die nationalen Befindlichkeiten bis ins kleinste Detail. Welchen Anzug Westerwelle in der Stuttgarter Oper trug, wie viele Kontrollen angebracht sind, um die Kontaminierung von Lebensmitteln zu entdecken, wie viel Steuern man dem Mittelstand erlassen kann, wenn die wirtschaftliche Entwicklung so weiter geht wie im Moment. Gleichzeitig sind in Weißrussland und in Ungarn deutliche Zeichen zu vernehmen, dass dort die Uhr erneut auf Bolschewisierung steht.

Gleichzeitig werden einzelne Nachrichten aus dem Norden Afrikas bekannt, die isoliert betrachtet zwar beunruhigend sind, in einer zusammenhängenden Berichterstattung jedoch deutlich machen würden, dass sich in ca. 2 ½ Flugstunden Entfernung vom Stuttgarter Bahnhof soziale Unruhen manifestieren, die zu einer Flutwelle eskalieren können, zumal sie internationale Allianzen mit sich ziehen könnten. Das Informationszeitalter, so könnte man folgern, macht satte Menschen nicht neugieriger, und dumme nicht gescheiter.

Die erste Meldung kam aus dem ägyptischen Alexandria und bezog sich auf einen Anschlag muslimischer Extremisten auf die Kirche koptischer Christen. Die Regierung dementierte interne Konflikte und wies auf ein internationales Netzwerk. Dann rumorte es in Algerien, wo es zu Ausschreitungen kam, als die Regierung die Preise für Zucker, Mehl, Öl und Milch hinaufsetzte. Die an Staatsdevisen reichste Regierung des Maghreb zuckte verwundert mit den Achseln. Und dann wurde in insgesamt 15 größeren Städten Tunesiens der Aufstand geprobt, weil die seit Jahrzehnten herrschenden Familien immer dreister und korrupter wurden. Letzteres schaffte es nicht einmal mehr in unsere Nachrichtenportale. In Marokko ist es noch ruhig, aber man muss kein Prophet sein, dass es dort einen Überfremdungsimpuls gegen die vor allem in Marrakesch wütenden Dekadenzeliten aus Europa und natürlich die damit verbundene Politik des Königs geben wird.

Es handelt sich bei den Auseinandersetzungen um erste Warnzeichen für ökonomische Spannungen, die auf der südlichen Seite des Mittelmeeres sich ins Unerträgliche zu steigern drohen. Die ägyptischen Kopten sind zumeist griechischer Herkunft und eine überaus erfolgreiche und solvente Händlerkaste, die zunehmend nach Europa orientiert ist und einer die große Mehrheit pauperisierenden Volkswirtschaft der Muslime den Rücken kehrt. In Tunesien sind es vor allem die kommunalen Gemeinwesen, die ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können, weil die Korruption zu weit fortgeschritten ist. Und in Algerien ist die muslimische Regierungselite zu sehr unbeeindruckt von dem kabilischen Hinterland, das seinerseits in der Lage ist, eine anti-islamische Guerilla zu installieren, die gegen die Zentralregierung in Algier vorgehen könnte.

Vor allem in Ägypten und in Algerien verbergen sich hinter den Konfliktparteien geostrategische Interessen, die mit den christlichen und islamischen Kulturkreisen kongruent sind und die Angelegenheit zu einem Pulverfass machen. Der Norden Afrikas ist dabei, globale Entwicklungslinien direkt an den Rand Europas zu bringen.