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Über den Anfang

Das Räsonnement über den Anfang ist vielfältig. Täglich, ja stündlich befinden sich Menschen in der Situation, dass etwas Neues beginnt. Da ist es kein Wunder, dass der Anfang bis in die Philosophie und schönen Künste ein immer wieder bearbeitetes und dankbares Sujet ist. Das Volk, dem viel zugeschrieben wird, dessen Mentalität dem Negativen zuneigt und die stark geprägt ist von Ängsten und Unsicherheiten, bringt es für sich so auf den Punkt: Aller Anfang ist schwer. Falsch ist es nicht, erschöpfend aber auch nicht. Daher seien vielleicht drei weitere Varianten vorgestellt.

Nietzsche, der Matador christlicher Spiritualität, hat dem Anfang selbst für einen Nihilisten äußerst rationalen Kontext zugeschrieben. Nach ihm „ist nichts kostspieliger als der Anfang“. Was ist damit gemeint? Sicherlich keine banale Aufwandsökonomie, aber sicherlich die Einsicht, dass ein Anfang oder Neubeginn gut durchdacht und geplant sein will, wenn die Absicht besteht, auch erfolgreich mit dem zu sein, was begonnen wurde. Übrigens eine Erkenntnis, die sich in den Alltagsroutinen vielen Technokraten und Vulgärökonomen verschließt. Diejenigen Zeitgenossen, die Nietzsches Einsicht teilen, würden es aktuell so beschreiben, dass die Planungsintensität in direktem Zusammenhang mit den Erfolgsaussichten steht.

Hölderlin, der unruhige, gejagte Geist aus dem Tübinger Turm, der den Sturm der schwelenden Geister dieser Welt kaum noch ertragen konnte, sah im Anfang eine Art Tabula rasa. „So viel Anfang war nie“ verkündete er und sah ihn als einen Fluchtkorridor. Für ihn bedeutete der Anfang das Ende von den Leiden der Welt, von der Bedrängnis durch sinnentleerte Notwendigkeiten, von der Todeskralle bürgerlichen Gleichklangs. Hölderlin verfasste dem Anfang die Hymne der Weltflucht, die ein berauschendes Gefühl zu erzeugen vermag, aber nie lange hält.

Und dann ist da noch der viel zitierte Klassiker von Hermann Hesse. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, hatte der geschrieben und damit seinerseits die gesamte ihm folgende Hermeneutik verzaubert. Und ja, es klingt sympathisch, dem von vielen gefürchteten Anfang, denen der Besitzstand und die Routine alles ist, ein positives Pendant entgegenzuhalten. Ein Pendant, das dem Mysterium, welches sich aus der Ungewissheit ableiten lässt, eine Bereicherung der Erkenntnis wie des Gefühls zuschreibt. Das Heraustreten aus der Wohlfühlzone wird so zum Eintrittspreis für den noch unbekannten Rausch.

Welche Variante wem am besten gefällt, ist jedem anheimgestellt und für die gesamte Population kaum auszumachen. Letzteres wäre sehr interessant zu wissen, obwohl wir uns einen Reim darauf machen können. Es ist anzunehmen, dass einem Großteil, d.h. der Mehrheit, der Anfang als ein Risiko erscheint, dass eine bestimmte Gruppe hoch professioneller Akteure sich der Betrachtungsweise Nietzsches annimmt und dass eine relativ große Gruppe sich dem Zauber zugeneigt sieht. Doch das sind Annahmen, die niemand zu verifizieren in der Lage ist.

Was bei dem Räsonnement über das Räsonnement hinsichtlich des Anfangs auffällt, ist die nicht determinierbare Zuordnung der jeweiligen Interpretation zu einer sozialen Gruppe auszumachen ist. Das ist ein interessantes Feld der Betrachtung. Wer, oder welche soziale Gruppe, neigt zu welchen hermeneutischen Mustern bei welchem Begriff? Eine hoch spannende Fragestellung. Und sie hätte einen Anfang verdient!

Die Macht der Machtlosen

Die Definition der Macht per se bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Die positive Konnotation ist im deutschen Sprachgebrauch nahezu erloschen. Dieses liegt in erster Linie an der verhängnisvollen Geschichte der Deutschen im 20. Jahrhundert. Dort wurde Macht immer in einem destruktiven Kontext erlebt. Selbst Nietzsches Definition der Macht als einer Option auf die Gestaltung wurde durch ihre Verballhornung durch die Faschisten völlig diskreditiert. In den gängigen Definitionen ist folglich die Macht als ein Herrschaftsinstrument zu sehen, das es denen, die die Macht innehaben, ermöglicht, der großen, machtlosen Masse ihren Willen aufzuzwingen und diese zu malträtieren. Demnach ist Macht etwas Negatives, das dem Wunsch nach Demokratie nicht entspricht.

Die aus dem Trauma abgeleitete Deutung unterschlägt jedoch die positive Bedeutung von Macht, die auch nicht aus Demokratien weg zu deuten ist. Auch dort existiert Macht, d.h. eine Gestaltungs- und Durchsetzungsgewalt, die bei Funktionen und Ämtern lokalisiert ist, die auf Zeit und unter demokratischer Kontrolle vergeben werden. Macht ist das notwendige Mittel, um Menschen und Apparate einem politischen Willen zu beugen. Das ist sogar per Verfassung so gewollt. Wer die Macht auf Zeit inne hat, kann gestalten, aber sie auch missbrauchen. Über beides entscheiden die nächsten Wahlen.

Natürlich existieren selbst in Demokratien auch andere, informelle Strukturen der Macht, die wiederum in beide Richtungen verwendet werden. In jedem sozialen System bilden sich Strukturen heraus, in denen Macht verfügbar wird: in der Familie, im Freundeskreis, im Verein, in der Initiative und natürlich im Betrieb. In den meisten Fällen werden diese Systeme durch einen Rechtsgedanken erfasst, der dem Missbrauch wiederum Einhalt gebieten kann, sofern die Akteure die Courage aufbringen, Verhältnisse, in denen Macht nicht gestaltet, sondern unterdrückt, anzuprangern.

Und es existiert eine weitere Form der Macht, die ihren Ursprung im Widerstand gegen bestehende Verhältnisse hat. Es ist die so genannte Macht der Machtlosen. In einem definierten System von Herrschaft findet sich immer eine nicht definierte Form der Subversion, die dazu führen kann, dass die formale Macht auch scheitern kann. Der Terminus Dienst nach Vorschrift trifft diesen Umstand nahezu perfekt. In ihm wird ein Geheimnis entschlüsselt, in dem sich eine nicht vorgesehene, aber äußerst wirkungsvolle Form des Widerstandes manifestiert. Sie versetzt die Beherrschten, oder, um bei der Definition zu bleiben, die Machtlosen in die Lage, ohne den offenen Kampf gegen die bestehenden Machtverhältnisse zu mobilisieren, die Funktion eben dieser erheblich zu schwächen.

Indem das Mittel des passiven, formal nicht angreifbaren Widerstandes ergriffen wird, wird der intrinsische Geist der Macht ad absurdum geführt. Man kann Aufträge auch so ausführen, dass sie keinen Sinn ergeben, auch wenn vom Buchstaben her keine Form der Subversion vorliegt. Es handelt sich um eine überaus wirksame Waffe gegen die absolute Macht. Zumeist kommt sie mit einem Witz daher, der nicht nur den Willen der Macht negiert, sondern sie zudem dem Spott aussetzt. Das literarisch wohl beste Beispiel für diese Form des Widerstandes liefert Capeks Der brave Soldat Schweijk. Letzterer interpretiert die ihm gegebenen Befehle in der Aura des Begriffsstutzigen nahezu in ihr Gegenteil. Der Vorzug dieser Interpretation liegt in der Entschärfung der Waffen der Mächtigen: Würden sie diese gegen diese Form des Widerstandes benutzen, würden sie doppelt diskreditiert. Die Macht der Machtlosen ist in der Lage, die Mächtigen jenseits der zur Verfügung stehenden materiellen Gewalt in den Wahnsinn zu treiben. Angesichts dieser Perspektive ist es ein Wunder, dass diese Taktik so selten angewendet wird.

Das Streben nach Bedeutung

Nietzsche verglich die Verweildauer der Menschheit in der kosmischen Existenz mit dem Moment, den der Ochse brauche, um ein lästiges Insekt abzuschütteln. Damit wählte er zum einen eine Metapher, die über die Kürze der Zeit hinaus der Menschheit noch weniger schmeichelte und den Kosmos als Träger der Last Menschheit auch nicht verschonte, und zum anderen übertrieb er sogar die Dauer menschlicher Existenz. In Wahrheit ist sie kürzer, nur verglichen nach der Dunkelheit als Folge des Urknalls, die ihrerseits 700 Millionen Jahre dauerte, bevor es Licht wurde.

Angesichts dieser Erkenntnis wäre es befremdlich zu beobachten, mit welcher Inbrunst einzelne, zahlenmäßig nicht zu unterschätzende Exemplare dieser Spezies nach Bedeutung streben. Sie opfern ihre Energien dafür, sind sind bereit, andere Zeitgenossen dafür über die berühmte Klinge springen zu lassen und sie lassen sich durch keine persönliche Niederlage davon abbringen, das zu erreichen, was sie als die große Bedeutung begreifen. Und selbst wenn sie um die Vergänglichkeit der humanen Welt wissen, lassen Sie von ihrem großen Unterfangen nicht ab.

Die Erklärung für diese unsinnige Verwegenheit liegt in etwas begründet, das unabhängig von der Determination der menschlichen Rasse und seiner historischen Verweildauer liegt. Es ist das innere Bild, das sich das Individuum von sich selbst macht. Gemäß der vorgegebenen Sozialisationsparameter stehen dort bestimmte Werte, die von Elternhaus, Umgebung und Schule vermittelt werden und die vielleicht auch bereits intrinsisch vorhanden sind. Dort steht allerdings weniger die Bedeutung als Kriterium der Abhebung von den anderen, doch das Gefühl, das in Situationen der Niederlage entsteht, weniger bedeuten zu können oder weniger Wert zu haben als andere, führt zu einer Traumatisierung, die in der Lage ist, Energien freizusetzen, die nicht mit dem, was immer auch erreicht wird, korrespondieren.

Dem Streben nach Bedeutung soll hier auf keinen Fall der Müßiggang der Besserwisser entgegengestellt werden. Diese Reaktion liegt vielen Vertretern der Erkenntnis der zum Teil pathologischen Bedeutungssucht nahe, aber es ist die falsche trotz richtiger Wahrnehmung. Bedeutungssucht als pathologisch zu beschreiben ist das Eine, das Desinteresse und die Faulheit als Medikation zu verschreiben das Andere, aber Falsche.

Das konstruktive Pendant zum Bedeutungssüchtigen, der ständig am ganz großen Rad dreht und dabei sein eigenes, profanes Leben verpasst, findet sich durchaus im realen Leben. Es sind diejenigen, die ihre Bestimmung darin sehen, etwas zu vollbringen, was sie sich vorgenommen haben und die die Mittel, die sie dazu benötigen, nach dem Aspekt des Nutzens und nicht der Bedeutung auswählen. Es sind genau die Gestalten, von denen der Volksmund sagt, dass sie verbunden sind mit der großen Masse, dass sie die Erdhaftung nicht verlieren, was immer sie auch Großartiges tun und die selbst in ihrem größten Erfolg mit einer Bescheidenheit daherkommen, die von den Bedeutungssüchtigen als grenzenlose Dummheit betrachtet würde. Denn wenn du Erfolg hast, so ihr Denken, dann musst du die Gunst der Stunde nutzen und dir für alle sichtbare Statussymbole geben lassen, sodass deine Bedeutung allen noch sichtbarer wird und nie verblasst.

Es geht also auch hier um die Frage, ob, bei aller Kurzfristigkeit der menschlichen Existenz, ein Streben nach persönlichem Ruhm das Movens ist oder der Wunsch nach Gelingen. Person oder Funktion, individuelle Bereicherung oder Entwicklung des sozialen Gefüges, trotz zeitlicher Begrenztheit der gesamten Wirkung. Ein Spiel, das nichts entscheidet und dennoch entscheidend ist, für das Glück des Augenblicks.