Was war die Stärke, die die Nationenbildung auf dem europäischen Kontinent beflügelt hatte? Oder was machte den gewaltigen Durchbruch aus, der schon vorher auf diesem Kontinent geschah, als die Planken des Mittelalters verlassen und der Marmor der Aufklärung betreten wurde? Und später, nachdem die Nationen in den Wettbewerb miteinander traten, wer hatte, in diesem manchmal schnöden Kampf um die Macht, den Weitblick, um auch andere Möglichkeiten der Entwicklung zu eröffnen? Neben den Klassen, die eine soziale Formation des gesellschaftlichen Antriebs sind, waren immer wieder Denker, Wissenschaftler, Philosophen am Werk, die den europäischen Kontinent in Schwung brachten.
Sie, die Intellektuellen, hier aufzuzählen, dazu reichten weder Raum noch Zeit. Europa, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, war gesegnet mit hervorragenden Intellektuellen, die an den Reibungsflächen der Erkenntnis die Augen offen hielten und sich zu Wort meldeten. Entweder warnten sie vor Entwicklungen, in die eine unbedarfte und unreflektierte Gesellschaft zu schlittern drohte oder sie wiesen Lösungswege, die Ansätze einer tatsächlichen oder vermeintlichen Befreiung zeichneten. Denn auch sie irrten, zuweilen sogar gewaltig. Aber sie waren das Salz in der Suppe, d.h. sie brachten Geschmack in die Substanz des Daseins.
Die Intellektuellen wurden, analog zu der wechselvollen Geschichte des Kontinents, zum einen zu Nationalhelden, zum anderen wurden sie verfolgt und gemeuchelt. Auch darin unterschieden sie sich nicht vom Rest der Gesellschaft, deren Teile immer auch beiden beschriebenen Schicksalen erlagen. Dennoch, ohne sie wäre vieles anders verlaufen und ohne sie wäre die Geschichte der verschiedenen europäischen Nationen eine fade Angelegenheit.
Irgendwann, in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, da setzte eine Entwicklung ein, die als das Verschwinden der Intellektuellen als markante Gruppe in Europa bezeichnet werden kann. Vielleicht hat es Milan Kundera in einem Essay aus dieser Zeit nolens volens am besten auf den Punkt gebracht. In dem immer noch lesenswerten Essay „Un occident kidnappée oder die Tragödie Zentraleuropas“ beschrieb er, wie er und ein Freund durch die Straßen Prags irren und sich vergeblich überlegen, welchen europäischen Intellektuellen von Format sie denn anrufen könnten, der Partei für sie als zensierte und verfolgte Schriftsteller ergreifen könne. Schließlich fanden sie ihn in Jean Paul Sartre doch, aber der freie, renitente, politisch unabhängige Intellektuelle war in Europa eine Rarität geworden.
Leider lässt sich feststellen, dass sich dieser Zustand verstetigt hat. Die politischen Krisen, in denen sich das heutige Europa befindet, haben an Qualität wie Komplexität zugenommen, aber ein Votum seitens europäischer Intellektueller, die eine internationale Anerkennung aufgrund ihrer eigenen Leistungen genießen, bleibt beharrlich aus. Wie aufreizend wäre es, wenn europäische Intellektuelle aus verschiedenen Ländern den Wahnsinn in der Ukraine, die Brandlegung im Kosovo, den Kulturmord in Portugal, das Auslöschen einer kompletten Generation in Spanien und die Abwicklung einer ganzen Nation in Griechenland anprangern würden. Da wäre es vorbei mit den vermeintlichen Sitten derer, die im Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit stehen und von einer primitiven Journalistenschar dafür gelobt werden, dass sie den Weg der Barbarei dem der Zivilisation vorziehen.
Vielleicht ist es gerade der Medienbetrieb, der vieles zunichte gemacht hat, was das freie Denken betrifft. Aber vielleicht sind es auch die Charaktere heute, die so etwas wie schlichte Standfestigkeit vermissen lassen. Emile Zola drohte für sein „J´accuse!“ das Gefängnis und dennoch zögerte er keine Sekunde, den Artikel zu veröffentlichen. Heute, wo die Gebildeten alles spannend finden, was Geld einbringt, scheint das eine Eigenschaft zu sein, die eher befremdet.
