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Krise, Rationalisierung, Perspektive

Eine Prognose: Wäre heute bereits klar, wie viele Arbeitsplätze die Krise vernichten wird, dann sprächen wir jetzt nicht über bewundernswerte Disziplin. Laut der International Labor Organization (ILO) stehen akut weltweit 195 Millionen Vollzeit-Jobs zur Disposition. Als Folge der Krise, im Moment! Vor allem sind zwei Ursachen zu benennen. 

Einerseits schlicht die Insolvenz kleiner Betriebe, die aufgrund mangelnder Rücklagen den Lockdown nicht werden überleben können. Andererseits radikale Rationalisierungsmaßnahmen seitens der Firmen. Sie können jetzt, mit der Krise im Rücken, zügig vieles umsetzen, wofür sie sonst mindestens zehn Jahre bräuchten. German Wings lässt grüßen. Ganze Geschäftszweige, die schon lange nicht mehr rentabel waren, werden über Nacht verschwinden. Das macht aus unternehmerischer Sicht sogar Sinn, es kostet aber auch Arbeitsplätze.

Dabei nicht berücksichtigt sind die jetzt im Flächenversuch etablierten Heimarbeitsplätze. Wie viele davon solche bleiben, steht noch dahin und ob als Vollzeitarrangements ebenso. Viele Kosten für Büros und betriebliche Infrastruktur könnten eingespart werden, wenn vieles von vielen zuhause erledigt würde. Die Kostenverlagerung ginge zu Lasten derer, die dann, sozial isoliert, von zuhause aus arbeiteten. Zudem ist die interessengeleitete Kommunikation der Arbeitnehmerschaft dann erheblich reduziert. 

Vieles spricht für einen drastischen Rationalisierungsschub, der gravierende Auswirkungen auf die gegenwärtige Beschäftigungslage haben wird. Hinzu kommen von der Regierung bereits durchgewunkene Lockerungen von Arbeitszeitverordnungen, Arbeitsschutz etc.. Noch nicht in dieser Rechnung sind die Veränderungen, die der nun erprobte Lockdown mit sich bringen wird. Auch der Umgang miteinander im täglich notwendigen Verkehr sowie das Konsumverhalten wird sich ändern, was neue Dienstleister und Branchen hervorbringen und alte verschwinden lassen wird. 

Dass sich die ökonomischen Interessen Geltung verschaffen werden, steht außer Zweifel. Und dass die gegenwärtigen Besitzverhältnisse, die in ihrer absoluten Polarisierung mit dem Wirtschaftsliberalismus Weltpremiere haben, in der Gegenüberstellungen von Zahlen unter Zehn auf Seiten der Reichen und Milliardenkohorten auf der anderen Seite die wahre Krankheit dieser Zeit deutlich machen, dass diese Besitzverhältnisse, bliebe es dabei, für die Mehrheit der Weltbevölkerung eine dramatische Verschlechterung der Lebensverhältnisse nach sich ziehen wird, steht außer Zweifel.

Ja, Träumen und Hoffen ist gut! Aber eine andere, bessere Welt zu denken, ohne die grotesken Eigentumsverhältnisse dabei im Kopf zu haben, ist grenzenlos einfältig oder ein laues Täuschungsmanöver. Derzeit kursieren sehr viele Überlegungen, was sich alles zum Besseren wenden könnte, wenn „wir“ die richtigen Lehren aus den Erfahrungen zögen, die „wir“ gerade machten. Das ist richtig, nur wird das ohne praktische Folgen sein, wenn sich lediglich nur die Interessen derer durchsetzen, die ihren selbst von ihnen nicht mehr erfassbaren Besitz vergrößern wollen ohne Rücksicht, nein, zumeist gegen das Gemeinwohl. 

Die große Chance, die sich aus der Krise entwickeln ließe, bestünde darin, sich eine andere, neue Welt zu ersinnen, in der mächtiger, über-mächtiger, von den Inhabern gar nicht Konsumverhalten Reichtum verwandelt werden könnte in Assets des Gemeinwohls. Die Besitzverhältnisse unserer Tage haben etwas Monströses. Jetzt muss es gehen um die Definition, was Gemeinwohl ist, und zwar regional wie international, und es muss darum gehen, wie die nötigen Mittel requiriert werden können, um dieses Gemeinwohl zu erwirtschaften. Dazu sind neue Konzepte erforderlich. Auch die bestehende Bürokratien der untergehenden Nationalstaaten werden das nicht organisieren können. Es ist eine Herkulesaufgabe. Die Alternative allerdings würde alles an Zynismus und Despotie in den Schatten stellen, was bereits in den Geschichtsbüchern steht.  

Wohlstandsnationalismus

Seit dem sich in den Nüstern der EU-Politiker die Ahnung verbreitete, dass nicht alles so vereinigend verlaufen würde wie geplant, wurde der Slogan vom Europa der Regionen ins Leben gerufen. Damit war eine stärkere kulturelle Autonomisierung gemeint, d.h. mehr Folklore in den Regionen und mehr Fiskus und Exekutive in Brüssel. Doch es verlief anders. Aus guten Gründen weigerten sich die Nationalstaaten, generell Hoheitsrechte abzugeben in einem Tausch gegen unverbindliche Kulturfestivals. Was mit dem Europa der Regionen bewusst nicht gemeint war, war die Anerkennung von Regionen, die sich von einzelnen Mitgliedstaaten vereinnahmt fühlten, zu eigenen Staatsgebilden. Beispiele dafür gab und gibt es, aber genau dort setzte eine Diskussion ein, die weit über das Ressentiment hinaus so viel Klugheit besaß, dass sie als unrealistisch wahrgenommen wird.

Etwas anderes sind separatistische Bewegungen in einzelnen Nationalstaaten, die vordergründig auf eine kulturelle Autonomie pochen und sehr verklausuliert auf eine Entsolidarisierung abzielen. Die markantesten Beispiele hierfür sind die Lega Nord in Italien und die Bewegung für ein unabhängiges Katalonien in Spanien. Letztere ist die wohl radikalste und besitzt eine Art Vorreiterrolle für eine Entwicklung, die dann endgültig für die Abwicklung der EU stehen wird.

Nicht, dass die Katalanen nicht etwas hätten, was sie von den Menschen in Kastilien, Andalusien, im Baskenland, in Galizien, oder Exremadura unterschiede, zumindest ihr vulgärlateinischer Dialekt, der in vielen Häfen des Mittelmeeres als lingua franca verbreitet ist. Das größte Alleinstellungsmerkmal ist wirtschaftlicher Erfolg, der mit Handel und Industrie zusammenhängt und historisch bedingt ist. Eine Vereinbarung, die allen Nationen mit unterschiedlichen Regionen zugrunde liegt, dass nämlich mit einer Art Lastenausgleich operiert wird, ist auch im Fall Kataloniens der zentrale Streitpunkt. Oder wie es einer der separatistischen Botschafter Kataloniens, Pep Guardiola, kürzlich zum Besten gab: Es ist gut, dass es guten Menschen gut geht. Da ist es dann gar kein Wunder mehr, dass dieser Vertreter einer sozialen Sezessionstheorie in den Staatsverein Bayerns nach München geholt wurde, weil dort ein solches Gedankengut ebenfalls gepflegt wird.

Dem Zerfall von Bündnissen und Staaten liegen in der Regel innere wie äußere Faktoren zugrunde. Ungleichheit im eigenen Haus ist etwas, das zu Spannungen führt, aber nicht unbedingt zum Bruch führen muss. Statt Absonderung kann auch Synergie stehen, statt Konkurrenz eine gemeinsame Identifikation. Das, was eine Gemeinschaft ausmacht und im Englischen so treffend als common sense, als gemeinsamer Sinn übersetzt wird, ist die Grundbedingung für Zusammenhalt. Und Zusammenhalt ist die Basis eines jedes Gemeinwesens.

Wird diese Basis verlassen, dann geht das Gemeinwesen vor die Hunde. Das war auch im Falle Jugoslawiens so, das von außen zwar mächtig gezogen wurde, aber innen vor allem durch kroatische und serbische Kräfte an einem dortigen Länderfinanzausgleich gemäkelt wurde, in den die höher entwickelten Regionen nicht mehr zahlen wollten. Es war der Anfang vom Ende. Analoge Bewegungen in Spanien wären ebenfalls der Anfang vom Ende, ähnlich wie in Italien oder Deutschland. Das Entscheidende an dem Wohlstandsnationalismus ist die dekadente, weil politisch destruktive Haltung, die sich dahinter verbirgt. Dass sie, wie im Falle Kataloniens, nicht durch kritische Medien identifiziert wird, spricht dafür, dass die Voraussetzungen für eine kritische Reflexion von Politik in großen Teilen der Öffentlichkeit nicht mehr gegeben sind. Da werden die korruptesten Politiker Spaniens, die zum wiederholten Mal mit ihrer Sezessionsphantasie in Städten wie Barcelona scheiterten, als nette Menschen in lustigen Trachten dargestellt, die ihre Heimat lieben. Das Grauen hat tatsächlich einen Namen!