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Multipolarität oder kriegerische Konfrontation?

Stefan Baron. Ami Go Home! Eine Neuvermessung der Welt

In einer Zeit, in der das alte Ordnungsgefüge ins Wanken geraten ist, genügt es nicht, sich auf die alten Koordinaten zu besinnen und unreflektiert an ihnen festzuhalten. Die Hegemonie der Vereinigten Staaten ist durch den rasanten Aufstieg Chinas wie die eigene, innere Spaltung und Schwächung brüchig geworden. Während sich die USA auf das Alte besinnen und durch eine Mobilisierung gegen China sich der Erosion widersetzen wollen, steht Europa in dieser Situation am Scheideweg. Der Wirtschaftsjournalist Stefan Baron hat diese Entwicklung zum Anlass genommen, um sich mit den wesentlichen Bruchstellen zu befassen. In seinem Buch „Ami Go Home. Eine Neuvermessung der Welt“ analysiert er die gegenwärtigen Schwächen der USA, seziert die Lage in Europa und widmet sich den Ursachen für den chinesischen Boom. Die Lektüre lohnt sich, weil der Autor es vermeidet, in den alten Kategorien des Kalten Krieges zu verharren und sich den Interessen der globalen Akteure USA, China und Europa widmet.

Der Befund hinsichtlich der USA ist eindeutig: Sie sind ökonomisch geschwächt, militärisch seit langem strategisch überdehnt und politisch tief gespalten. Keine gute Voraussetzungen, um mit der Überlegenheit des eigenen politisch-ökonomischen Systems zu werben. Die Entscheidung der Präsidenten Obama, Trump und nun Biden, durch eine Politik der Eindämmung, des Containment, gegenüber China auf die Konfrontation zu setzen, lässt einen Kalten Krieg 2.0 immer manifestier werden. Zudem ist die Falle des Thukydides omnipräsent: Wenn eine geschwächte Hegemonie auf eine aufstrebende Macht trifft und die angeschlagene Macht sich aus einem Bedrohungsgefühl gegen diese mobilisiert, kann bei der neuen Kraft der Eindruck der Überlegenheit entstehen. Beide Gefühlslagen können zu militärischen Konfrontation führen.

China selbst ist im traditionellen Westen eine unbekannte Macht, deren Charakter mit den kursierenden Klischees nicht beschrieben werden kann. Die im Westen kolportierte Vorstellung, es handle sich um einen zentralistischen Staatskommunismus, in dem es keinerlei Vielfalt gebe, geht gewaltig am Kern vorbei. Private Initiative dominiert bei weitem das ökonomische Handeln, die Bevölkerung steht aufgrund des wachsenden Wohlstandes hinter dem Ordnungsrahmen der Kommunistischen Partei und die Kritikfelder, die die klassischen Themen der bürgerlichen Freiheiten betreffen, beschreiben allenfalls kleine intellektuelle urbane Eliten. Die Mammutleistung Chinas in den letzten Jahrzehnten bestand vor allem in großen Investitionen in die Faktoren, die generell den Wohlstand von Nationen begünstigen: Bildung, Infrastruktur, Wissenschaft und Technik und den damit verbundenen Innovationen. Das alles geht einher mit einer langfristigen Planung, die dem Mantra des „Auf-Sicht-Fahrens“, das derzeit im Westen dominiert, diametral widerspricht.

Europa steht in dieser Situation am Scheideweg. Schließt es sich bedingungslos der Eindämmungspolitik der USA mit den militärischen Implikationen an, verspielt es die Chance der Emanzipation. Diese beinhaltet den Verzicht auf die Möglichkeit wirtschaftlicher Kooperationen wie bei dem Projekt der Neuen Seidenstraße, sie hindert an den notwendigen Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Technologie und sie verstellt den Weg zu einem eigenständigen Sicherheitskonzept, das den Anspruch eines in einer multipolare Welt selbstbewusst handelnden Subjektes untermauern würde. Die Gelegenheit wie die Notwendigkeit, sich neu zu positionieren, wird auf der einen Seite von Frankreich deutlich formuliert, andererseits vor allem in Deutschland von atlantischen Netzwerken, die sich bedingungslos der Eindämmungspolitik der USA anschließen wollen, negiert. 

Das Buch ist ein Plädoyer für eine geopolitische Neubestimmung Europas ohne die politischen und wirtschaftlichen Grundlagen des eigenen Profils in Frage stellen zu müssen. Über die Schlussfolgerungen mag man streiten. Die Analyse besticht jedoch durch Faktenreichtum wie Schärfe. Es geht um nichts weniger als Multipolarität oder kriegerische Konfrontation.

  • Herausgeber  :  Econ; 1. Edition (15. März 2021)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Gebundene Ausgabe  :  448 Seiten
  • ISBN-10  :  3430210283
  • ISBN-13  :  978-3430210287

Die Multipolarität der Machtzentren

Immer wieder gerne wird das Wort Tschou En Lais zitiert. Henry Kissinger berichtete über ein Gespräch mit ihm bei einem Besuch in Peking, als Richard Nixon gegenüber der Sowjetunion die Karte zu spielen begann, die die chinesische genannt wurde. Kissinger hatte Tschou gefragt, wie er die französische Revolution mit der ihr innewohnenden Programmatik von Individualrechten bewerte. Darauf hatte der chinesische Außenminister nahezu erschrocken geantwortet, um das zu entscheiden, sei es noch viel zu früh, das Ereignis liege doch gerade einmal 200 Jahre zurück.

Was dieser Dialog dokumentiert, ist nicht nur die Binsenwahrheit, dass man in China, zumindest dort, wo die Macht ist, in anderen historischen Dimensionen zu denken scheint als im Westen. Das Gespräch macht allerdings auch deutlich, worüber sich die sich damals nach einer Eiszeit annähernden Politiker aus den USA und China unterhielten, oder, um es genauer zu sagen, was Kissinger und Nixon im Gepäck hatten, als sie ins Reich der Mitte fuhren. Es war vor allem die Frage, ob eine Konvergenz in der Bewertung der Fragen der bürgerlichen Gesellschaft möglich sein würde. Sie war schnell mit Nein beantwortet.

Die Frage nach den Menschenrechten, so wie sie in den Verfassungen der bürgerlichen Länder im Westen stehen, sind immer wieder Anlass von Irritationen zwischen China und ihnen. Fest steht, dass sich die Chinesen in dieser Frage nicht drängen lassen und fest steht, dass die meisten Länder des Westens sich trotz der rigiden Haltung Chinas nicht davon abhalten lassen, sich mit dem Land zu arrangieren. Dazu ist es wirtschaftlich und machtpolitisch zu wichtig. Was sich offenbart, ist eine typische Aporie, ein nich auflösbares Problem. Was den Horizont der westlichen Herangehensweise betrifft. Sie ist zudem hinsichtlich der Bündnispartner in anderen Kontexten nicht konsistent. Wer Saudi Arabien einen Verbündeten nennt und sich über die mangelnde Einhaltung von Menschenrechten in China echauffiert, der muss sich die Anzweiflung seiner Glaubwürdigkeit gefallen lassen.

Das Gespräch zwischen Tschou En Lai un Henry Kissinger findet übrigens in Regelmäßigkeit, immer dann, wenn westliche auf chinesische Politiker treffen, sein Fortsetzung. Nur Antworten die chinesischen Gesprächspartner dann nicht mit dem Verweis auf die mangelnde Zeit, sondern mit der Gegenfrage: Was macht sie so sicher, dass Ihre Werte in einer Kultur, die Sie nicht verstehen, die gleiche Attraktion und Bedeutung haben wie bei Ihnen? Zumindest das Nachdenken über diese Frage wäre einen ernsthaften Diskurs wert. Denn jenseits des Individualismus ist in Asien der Kollektivismus ein Wert, den niemand leugnen kann.

Warum diese Betrachtung? Weil erstaunlicherweise aus den USA vermehrt Impulse kommen, dass sich die Welt mittlerweile multipolar in ihrem Machtgefüge gestaltet. Vorbei das bipolare Modell USA-UdSSR, vorbei das US-Monopol. Und parallel zu den Signalen aus den USA kommen analoge aus China und aus Russland. Wenn dem so ist, dann müssen Überlegungen im Vordergrund stehen, wie und mit wem man in Zukunft kommunizieren und verkehren will. Die bundesrepublikanische Politik macht momentan nicht den Eindruck, dass die veränderte Weltlage bei ihr angekommen wäre. Da sieht es eher so aus, als solle eine historisch überkommene bipolare Konfrontation revitalisiert werden. Das als rückwärtsgewandt zu bezeichnen, ist noch wohlwollend. Vielleicht ist es auch zu erklären aus den Horizonten derer, die heute maßgeblich die deutsche Politik bestimmen und in diesem Konflikt sozialisiert worden sind. Nur ist diese Denkweise völlig überkommen. Es wird höchste Zeit, sich mit dem Konstrukt der Multipolarität der Machtzentren zu beschäftigen.