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Friedrich Nietzsche und der Niedergang der Moral

Ein Satz, der lange Zeit in den Hintergrund getreten wahr, bringt sich wieder zur Geltung. Wo man auch hinhört, da fällt er in Gesprächen. Unabhängig davon, um was sich die Unterhaltung dreht. Wenn es um die Einstellungen von Menschen und die sehr unterschiedliche Wahrnehmung der Ereignisse geht, kann man ihn immer wieder hören: Ich kenn mich nicht mehr aus!“ Der Satz dokumentiert eine gewisse Orientierungslosigkeit. Wem oder was soll man noch glauben? Was entspricht der Realität und was nicht? Doch was als eine Überforderung einer größeren Anzahl von Individuen erscheint, ist eine untrügliche Referenz für einen weiter greifenden Umstand: Wir befinden uns in einer Zeit großer Veränderungen, wir besichtigen den Einsturz von Gewissheiten und wir erleben den Niedergang dessen, was wir über lange Zeiträume als eine Art kollektivem ethischen Kompass angesehen haben.

Vor wenigen Tagen im Bundestag: Der Kanzlerkandidat der Union für die kommenden Wahlen griff den Kanzler an, in dem er ihm vorwarf, nicht dafür zu sorgen, dass Waffen aus deutscher Produktion schnell genug in die Ukraine und nach Israel geliefert würden. Die Replik des Kanzlers war nicht eine Infragestellung einer derartigen Vision von Außenpolitik, sondern er unterstellte der in allen Aspekten als Retro-Modell des Neoliberalismus zu klassifizierenden Figur, sie irre sich, alles geschehe so schnell, wie möglich. 

Dieser kurze Dialog offenbarte das Desaster unserer Tage. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass das Konfliktmanagement der gegenwärtigen Politik exklusiv aus Eskalationsmodellen von Gewalt besteht.  Und das Selbstzerstörerische daran ist die Tatsache, dass man es in allen Belangen und immer wieder fertig bringt, die Anwendung von Gewalt moralisch zu begründen. Der erste diabolische Prophet dieser sektiererischeren Politik war vor zwanzig Jahren ein grüner Außenminister. Und was damals als moralisch einwandfrei begründete Zerschlagung Jugoslawiens angesehen wurde, hat, politisch-ideologisch, bis heute Schule gemacht. Und das Handeln der Musterschüler kann man heute täglich mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen. Die Werte, um die es in den Wonnestunden der bürgerlichen Demokratie einmal ging, sind heute Hauptmotive für Krieg und Gewalt.

Genau das ist der Zustand, der den Philosophen Friedrich Nietzsche zu seinem Werk „Zur Genealogie der Moral“ bewegte und der den Krisenzustand von Gesellschaften, deren moralische Substanz verloren gegangen war, mit dem Kampfruf zur „Umkehrung aller Werte“ begegnete. Wenn wir uns die heutigen Zustände genauer ansehen, dann könnten sie die Vorlage für Nietzsches Ausführungen und Schlussfolgerungen gewesen sein. Die Werte haben ihre ethische Substanz verloren, die Moral hat sich an Waffengeschäften abgearbeitet. Wer Krieg und Gewalt mit Moral legitimieren will, so könnte man in der heutigen Diktion sagen, der hat fertig. 

Und hören Sie genau zu, lesen Sie akribisch Zeitung! Genau so ist es. Was als gesellschaftlicher Konsens allenthalben gepriesen wird, ist ein Offenbarungseid kollektiver Ethik. Marodieren ist nun einmal keine Tugend.

Und Nietzsche, der seinerseits schon fest in den Schubladen einer mehr als hirnrissigen historischen Bewertung steckt, hatte gar nicht so Unrecht, wenn er schrieb:

„Unterschätzen wir dies nicht: wir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine ‚Umwertung aller Werthe‘, eine leibhafte Kriegs- und Siegs-Erklärung an alle alten Begriffe von ‚wahr‘ und ‚unwahr‘“ (Der Antichrist, KSA 6 179)

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr muss ich ihm recht geben.