Micheal Brecker. Tales from the Hudson
Viele Wege ist er gegangen, der große Virtuose des Tenorsaxophons. Micheal Brecker war der Leuchtturm des Jazz im ausgehenden 20. Jahrhundert. Der Maniac, der wie besessen an seiner Fertigkeit arbeitete, der Perfektionist, dem nichts genügte, der täglich Arbeitstage am Tenor verbrachte wie andere Leute im Büro. Acht Stunden täglich waren für ihn normal, auch, als er längst etabliert war und den Zwang, Geld zu verdienen, hinter sich hatte. Als Studiomusiker für die Popgrößen hatte er für das nötige Kleingeld gesorgt, um seiner großen Obsession, dem innovativen Jazz, schrankenlos frönen zu können. Durch die Genres war er durch, Postbebop, Funk, Rock, Pop, überall hatte er sich herum getrieben, um dann in den letzten zehn Jahren seines viel zu kurzen Schaffens dem Jazz einen Impuls zu geben, der bis heute nachwirkt.
Die große Erzählung, die uns Micheal Brecker, der im Jahr 2007 verstarb und nur 58 Jahre alt wurde, hinterließ er der Nachwelt mit dem 1996 erschienenen Album Tales from the Hudson. Es ist ein Flug durch das schöpferische Leben Breckers und die Titel sind wie orthographische Inschriften. Mit Slings and Arrows akzentuiert Brecker die archetypischen Qualitäten des Jazz. Bei Midnight Voyage dechiffriert er die Gesetze des Kraftfeldes von Hochspannung und Trance, welche er zu beherrschen vorgibt. Der Song for Bilbao, in seiner Eingängigkeit und kontrapunktischen Brillanz wie eine Hommage an Kurt Weill anmutend, belegt die Offenheit des Innovators für jegliches Genre. Mit Beau Rivage setzt er die Reise fort um mit African Skies dort anzukommen, wo vieles begann, das im amerikanischen Jazz endete. In diesem Stück ist das positiv Barbarische, nicht Domestizierte mit den Melodielinien ebenso eingefangen wie eine originäre, temperamentvolle Rhythmik, die auf die Zivilisierungsprozesse wie eine Infusion wirken.
Das Stück Naked Soul kann als das eigentliche Vermächtnis Breckers begriffen werden. Nachdem man auf der vorherigen Erkenntnisreise die Vögel hat förmlich schreien, die Winde pfeifen und die See klatschen gehört, scheint in diesem kontemplativen, melancholischen, einzigartig melodiösen und dann wieder dissonanten Werk die Einsicht auf, dass die Kreatur auf dem langen, argen Weg der Erkenntnis die letzten Einsichten mit sich selbst ausmachen muss. Sie sind nicht teilbar, doch selbst die Stille der Einsamkeit erzeugt eine Melodie.
Die Musiker, die Micheal Brecker auf dieser Reise begleiteten, waren Pat Metheny, Jack DeJohnette, Dave Holland, Joey Calderazzo, McCOY Tyner und Don Alias. Die Agglomeration von Können, Perfektion, Intuition, Empathie und Kreativität muss nicht unbedingt zu etwas Einzigartigem führen. Micheal Brecker jedoch hat es mit seinem genialen Duktus vermocht, dieses hochkarätige Ensemble in seine Erzählung einzubinden. Tales from the Hudson ist eines der großartigsten Alben des Jazz im 20. Jahrhundert.
