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Anspruchsvoll und erhellend

Umberto Eco. Die Fabrikation des Feindes und andere Gelegenheitsschriften

Vor vielen, vielen Jahren schrieb Milan Kundera einen Essay über seine Zeit in Prag, als dort noch ein kommunistisches Regime herrschte und die Intellektuellen ständig das Gefühl hatten, keine Luft mehr zu bekommen. Der Aufsatz hieß Un Occident Kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas. Irgendwann suchte der Kreis um Kundera nach einem unabhängigen Intellektuellen in Europa, den man anrufen könnte, um ein Manuskript zu retten und auf die furchtbaren Zustände hinter dem eisernen Vorhang hinzuweisen. Sie suchten und suchten und landeten zum Schluss bei Jean Paul Sartre, der damals noch lebte. Wären wir heute in einer ähnlichen Situation, dann hätten wir dieselben Probleme. Unabhängige Intellektuelle, die auch als moralische Instanz über Grenzen hinaus gelten und sich von niemandem vereinnahmen lassen, sind ein seltenes Gut. Einer kommt dafür allerdings allemal in Frage: Umberto Eco.

Umberto Eco hat bereits viele Leben hinter sich, das als Wissenschaftler und Professor für Semiotik, das als erfolgreicher Romancier mit so großartigen Büchern wie Der Name der Rose oder Das Foucaultsche Pendel. Nach der Wissenschaft blieb seine Leidenschaft beim Schreiben, auch der jüngste Roman Der Friedhof von Prag ist lesenswert, wenn auch nicht so genial inszeniert wie die beiden erst genannten. Zudem hat Eco seit vielen Jahren immer wieder Essays veröffentlicht, die allesamt lesenswert sind und mit beachtlicher Geschicklichkeit die Lücke zwischen Feuilleton und philosophischer Reflexion schließen. Sein neuester Band, Die Fabrikation des Feindes und andere Gelegenheitsschriften, kommt zu einer Zeit auf den Markt, die passender nicht sein könnte.

Als hätte es der italienische Hommes de Lettres bereits lange vorher gespürt, beginnt er die Sammlung mit einem Essay über die systematische Schaffung von Feindbildern in der Internationalen Politik. Die Fabrikation des Feindes dechiffriert die Gebrauchsanweisungen für das Manöver des medialen Bellizismus und das Design von Ressentiments. Angefangen mit dem demagogischen Impetus von Ciceros Reden gegen Catilina über die englischen Canterbury Tales zu Richard Wagner und Adolf Hitler, Eco synthetisiert den Prozess zur Feindbilderstellung sehr anschaulich und nachvollziehbar. Dabei werden nicht nur die einzelnen Elemente, die sich historisch immer wiederholen, enthüllt, sondern auch die psychologische Wirkungsweise auf diejenigen, die emotional gegen den Feind aufgerüstet werden sollen. Wer das, was momentan in unseren Medien im Falle Russland passiert, gehaltvoll reflektieren will, der sollte diesen Essay unbedingt lesen.

Aber auch die restlichen Essays sind unbedingt lesenswert. Absolut und relativ ist eine kleine intensive Reminiszenz an die wahrheitsphilosophischen Exkurse der Moderne, La fiamma è bella ist eine überaus geistreiche Hommage an das Feuer als epistemologische Metapher ebenso wie als Mythos von der Brennbarkeit des Eingeweihten. Und in Imaginäre Astronomien widmet sich Eco nicht nur Himmelsformen, unendlichen Welten, kalten Sonnen und imaginären Geographien, sondern auch dem im Dienste der Erkenntnis begangenen Irrtum, der sich außerhalb der profanen Zweckrationaliät in der Geschichte immer wieder auch als genialer Gewinn herausstellen konnte.

In den insgesamt zehn Aufsätzen, die allesamt keine leichte Lektüre sind, meldet sich einer der großen alten Meister des zeitgenössischen Europas zu Wort, der, mit dem Anachronismus eines nahezu enzyklopädischen Wissens gewappnet, in unterschiedliche Gebiete der Betrachtung reist, um den Humanismus in die Winkel der Fachlichkeit zu bringen. Das ist faszinierend und inspirierend zugleich. Ecos Essays sind eine Wohltat, weil sie anstrengen und erhellen. Eine Rarität!

Un occident désolée oder die Farce Europa

Der tschechische Romancier Milan Kundera war es, der im Jahre 1983 die Welt mit dem Aufsatz aufrüttelte „Un occident kidnappée oder die Tragödie Zentraleuropas“. Noch heute, nach all den Jahren und Veränderungen, schnürt es einem die Kehle zu, wenn man diese Zeilen liest. Kundera wies darin auf die kulturelle Eiszeit hin, die nach den russischen Panzern in das eigentliche Zentraleuropa eingebrochen war, er zeigte die Trauer über das Gefühl, von der Welt allein gelassen worden zu sein mit der Barbarei und die Vergeblichkeit, im damaligen Westen eine moralische Instanz zu finden, die sich der Sache von Humanität und künstlerischer Freiheit hätte annehmen können.

Heute, fast dreißig Jahre später und gut zwanzig nach der Implosion der UdSSR, hat sich das Gesicht Europas sehr verändert. Die formalen Freiheiten sind vielerorts eingezogen, aber eine Qualität im politischen Diskurs hat sich nicht herausgebildet. Die politisch herrschenden Klassen Europas sind nicht unbedingt das, was als Leitbild für eine demokratische Modellierung der Zukunft gelten könnte. Nein, ganz im Gegenteil, es sind immer mehr Menschen anzutreffen, die überall in Europa nächtens durch Paris, Rom, Berlin oder London schleichen wie einst Milan Kundera und sein Freund durch Prag, und sich flüsternd unterhalten über das Unverständnis und die Einsamkeit, die sie umgibt. Sie sind bedrückt durch die wachsende Ignoranz, das Verschwinden historischen Wissens und den Verlust zivilisationsgeprägter Umgangsformen und bestürzt ob der leeren Geschwätzigkeit, mit der die Völker Europas an der Nase herumgeführt werden.

Als seien in diesem schaurigen Makabré ein letztes Mal die Choreographen am Werke gewesen, wählten sie Protagonisten, die das Grauen weit über die Grenze des Erträglichen treiben: Dort ein Gerontopornograph, die mit glatt gezogener Haut die Via Appia hinunter taumelt, da ein magyarischer Napoleon, der mit seinem geschwollenen Daumen den Kampfjets den Einsatz in fremden Ländern befiehlt, und hier ein protestantischer Leierkasten, der eine Frau darstellen soll und die ausgebeulte Melodie des Staatsmonopolkapitalismus bis zur völligen Raserei des Publikums wiederholt.

Die nächtlichen Spaziergänger, die einsamen Seelen, sie mögen sich fragen, wie lange das alles noch gehen soll, im occident désolée, dem Westen, der das Musterbild des neuen Europas hatte sein wollen. Warum, so fragen sie sich, sind die Völker nicht schon längst auf den Barrikaden und murren auf, gegen die unerträgliche Dreistigkeit der Herrschenden, die die Gesellschaften spalten und keinen Sinn mehr stiften.

Vielleicht, so hoffen sie, ist die Überzeichnung des Wahnsinns ein letzter möglicher Anlass, um selbst den phlegmatischsten Bewohnern des Kontinentes klarmachen zu können, dass das alles so nicht mehr weitergehen darf. Vielleicht wie jüngst in Tschechien, als alle Räder zum ersten Mal seit 1989 still standen, weil die Regierung plant, das Rentenalter auf 70 hoch zu setzen, oder vielleicht wie derzeit in Griechenland, wo die einfachen Existenzen nicht zahlen wollen für die Gier von Spekulanten. Es ist die letzte Hoffnung derer, die keinen Schlaf mehr finden, im Freien Westen, der keiner mehr ist.