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Luiz Ignácio Lula da Silva

In diesen Tagen musste ich oft an einen viele Jahre zurückliegenden Artikel denken. Er hieß „Un Occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas“ und erschien im Jahr 1983. In ihm beschrieb der Autor Milan Kundera eine Situation, in der er mit einem befreundeten Schriftsteller, dessen Manuskripte gerade bei einer Hausdurchsuchung durch den tschechischen Staatsschutz beschlagnahmt worden waren, durch die Straßen des nächtlichen Prag zog und sich beide überlegten, welchen europäischen Intellektuellen von Einfluß sie anrufen könnten, um auf das Unrecht hinzuweisen. Es herrschte die bipolare Ordnung in der Welt und in Prag ein autoritäres Regime. Kundera webt in diesem Artikel ein großes Netz, das die Misere dieser Form der Weltordnung vor allem der in Ost- und Zentraleuropa lebenden Intellektuellen beschreibt. Interessant war jedoch, dass die beiden verlorenen Seelen niemanden fanden, der ihnen aus dem Westen hätte mit seinem Namen und seiner Reputation helfen können. Der einzige, der ihnen einfiel, war Jean Paul Sartre. Der war jedoch gerade verstorben. Die Misere, die Kundera beschrieb, herrschte nicht nur im Osten, sie zeigte auch ihre ersten Charakterzüge im Westen.

Warum mir dieser Artikel nicht aus dem Kopf geht? Weil ich der Auffassung bin, dass wir uns wiederum in einer miserablen Situation befinden. Die Waffen sprechen, die mentalen Fronten verhärten sich und man spricht nur noch übereinander, aber nicht mehr miteinander. Und ich überlege, welche Stimme von Format sich erheben könnte, um einen Hoffnungsschimmer zu erzeugen. Und ehrlich gesagt, von den Intellektuellen erwarte ich nicht viel, dort habe ich die Suche aufgegeben. Hinzu kommt, dass die wenigen, die ihre Stimme erhoben haben, sehr schnell durch die neuen Formen einer totalitären Denkweise geächtet werden, sodass ihr Beispiel eher abschreckt als ermutigt.

Bei der Revue der Staatsmänner und -Frauen sticht allerdings eine Figur hervor, die durch ihr Leben und das, was sie politisch bewirkt hat und durch die eigene Unabhängigkeit. Sie gibt Anlass zur Hoffnung, weil sie die ideologischen Verfestigungen nicht akzeptiert und sich immer wieder erhebt und dem Konsortium der Imperialen in der Welt immer wieder die Leviten liest. Es handelt sich um den brasilianischen Präsidenten Lula da Silva.

Aufgrund seiner eigenen Entwicklung weiß er, was Armut, Bedürftigkeit und der Verlust von Würde bedeutet. Aufgrund seiner politischen Karriere weiß er, wie verletzlich Menschen sind, wenn sie der brutalen Maschinerie der Macht ausgesetzt sind und wie Kämpfe verlaufen, wenn das Reglement missachtet und mit unlauteren Mitteln gekämpft wird. Lulas Narben haben zu seiner Weisheit beigetragen.

Seine Einlassungen sind von unschätzbarem Wert. Ob er im eigenen Land seine Minister fragt, wie sie ihre Erfolge messen wollen, ob er einen deutschen Kanzler, der um Waffenlieferungen buhlt, wie Frage stellt, ob die Deutschen aus der Geschichte nichts gelernt hätten, ob er Friedensinitiativen zu einem Konflikt anmahnt, der geographisch weit von seinem eigenen Land entfernt ist oder ob er in der UN-Vollversammlung die westliche Wertegemeinschaft fragt, ob es nicht an der Zeit wäre, Julian Assange freizulassen – auf Lula ist Verlass, wenn die Maßstäbe von Glaubwürdigkeit und einem redlichen Humanismus noch eine gewisse Geltung haben.

Analog zu Milan Kunderas Aufsatz müsste heute der Titel heißen „Un Monde kidnappé oder die Tragödie der globalen Selbstgewissheit. Aber es existiert noch eine Stimme von Gewicht, die Anlass zu Hoffnung gibt. Es ist die von Luiz Ignácio Lula da Silva!

Die kulturelle Wüste und die neue Avantgarde

Gefühlt liegen die Zeiten leichter Orientierung Lichtjahre zurück. Die Erinnerung, die suggeriert, es hätte noch funkelnde Ideen und Helden gegeben, die diese umsetzten, ist im kollektiven Gedächtnis verblichen. Ob es sich tatsächlich um eine Illusion handelt, dass es so etwas einmal gab? Die Meinungsmacher dieser Tage behaupten es. Und sie treffen dort auf Zustimmung, wo man berechtigterweise die Verklärung des Alten anzweifelt. Damit ist der Kuchen aber nicht gegessen. Verklärt werden soll gar nichts, die Stupidität, der Zynismus und die Gefräßigkeit des Jetzt ist jedoch weder normal noch attraktiv. Zu allem, was die Geschichte der Menschheit beflügelt, gehört eine Avantgarde. Die bei allem Triumphalismus über den Status Quo zu finden, ist nicht möglich. Die These: sie ist dabei, sich zu formieren, allerdings jenseits der gepflegten Öffentlichkeit, da sie an einem gesellschaftlichen Gegenentwurf arbeitet.

Dabei wären wir bei dem Zustand, den Totalitarismen hinterlassen. Es handelt sich um eine soziale wie kulturelle Wüste. Wie beeindruckt waren die zeitgenössischen Leser, als ein Milan Kundera das Prag hinter dem Eisernen Vorhang beschrieb. Die Zeit ohne Humor und Kultur, die Kälte, und das Schwinden intellektueller Helden. In seinem 1984 veröffentlichten und kaum noch wahrgenommenen Aufsatz – Un occident kidnappé ou la tragédie de l’europe centrale – hatte Kundera diese Wüste beschrieben. Diesmal die im Reich der UdSSR.

Letztere existiert seit 1991 nicht mehr. Der Westen, die selbst gefühlte Freiheit, übernahm und mit ihr der neue Totalitarismus des Marktes. Was dieser bewirkt hat, ist momentan überall zu beobachten: Die Zerstörung der Gemeinwesen, desolate Mentalitäten, das Reüssieren von irren Typen in der Politik und der gefühlte Tod der Kultur. Es ist, als säßen wir in einer Zeitmaschine und liefen mit Milan Kundera und seinem Freund durch die leeren Straßen des nächtlichen Prags in den Zeiten des Kalten Krieges.

Der „Westen“ hat es fertiggebracht, ein Déjà-vu über einen Zustand herzustellen, der längst überwunden zu sein schien und für den kein böser Gegenspieler verantwortlich zeichnet. Die Zeit, als man glaubte, sich zusammenreißen zu müssen, weil sonst die Attraktivität des ideologischen Gegenübers zunehmen könnte, ist seit Jahrzehnten vorbei und es ist zu verzeichnen: Der Teufel wohnt auch im Westen und fühlt sich hier recht heimisch.

Walter Benjamin hatte in seinem berühmten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ unter anderem auf die Fähigkeit des Verwertungssystems hingewiesen, genuin rebellisches Gedankengut zu einer Ware zu machen und ihm durch die Vermarktung die soziale Brisanz zu nehmen. Hoppla, sind wir da nicht bei dem, was wir massenhaft erleben? Das vermarktete Abfeiern einer politisch wie künstlerisch agierenden  Avantgarde, die entstanden war gegen die imperialistischen Kriege in Vietnam und in verschiedenen Ländern Afrikas, und die den Kapitalismus auf die Anklagebank setzte und ihm den Spiegel vorhielt? Die Traditionen verfremdete und Neues schuf? Nostalgisch verklärt und geriatrisch verbrämt liegt das alles als Ramsch auf dem Warentisch zum Schlussverkauf des Wirtschaftsliberalismus.

Mit Avantgarde hat das wiederum nichts mehr zu tun. Die Avantgarde entsteht momentan in anderen Teilen der Wahrnehmung. Es sind die verbotenen Zonen, gegen die so gerne gewettert wird als die Foren des Mobs. Schön, dass sich die Vertreter der kulturellen Friedhofsruhe so outen. Aber außer der Nostalgie gegenüber einer Avantgarde, die sie, wäre sie noch voller Leben und präsent, tief verachtet hätte, haben sie nichts zu bieten. Was bleibt, ist abgedroschene Fahrstuhlmusik.

Die Anfangs zitierte Tragödie Zentraleuropas wirkt mittlerweile im ganzen Wirkungsgebiet des selbst ernannten freien Westens. Ohne Camouflage hat dieser seine Attraktivität längst eingebüßt. Durch die Vermarktung einer historischen Avantgarde wird er nicht gerettet. Und in den Katakomben der kontrollierten Öffentlichkeit formiert sich bereits ein neuer, konstruktiver und demokratisch verstandener Gegenentwurf.

Europa und die Intellektuellen

Was war die Stärke, die die Nationenbildung auf dem europäischen Kontinent beflügelt hatte? Oder was machte den gewaltigen Durchbruch aus, der schon vorher auf diesem Kontinent geschah, als die Planken des Mittelalters verlassen und der Marmor der Aufklärung betreten wurde? Und später, nachdem die Nationen in den Wettbewerb miteinander traten, wer hatte, in diesem manchmal schnöden Kampf um die Macht, den Weitblick, um auch andere Möglichkeiten der Entwicklung zu eröffnen? Neben den Klassen, die eine soziale Formation des gesellschaftlichen Antriebs sind, waren immer wieder Denker, Wissenschaftler, Philosophen am Werk, die den europäischen Kontinent in Schwung brachten.

Sie, die Intellektuellen, hier aufzuzählen, dazu reichten weder Raum noch Zeit. Europa, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, war gesegnet mit hervorragenden Intellektuellen, die an den Reibungsflächen der Erkenntnis die Augen offen hielten und sich zu Wort meldeten. Entweder warnten sie vor Entwicklungen, in die eine unbedarfte und unreflektierte Gesellschaft zu schlittern drohte oder sie wiesen Lösungswege, die Ansätze einer tatsächlichen oder vermeintlichen Befreiung zeichneten. Denn auch sie irrten, zuweilen sogar gewaltig. Aber sie waren das Salz in der Suppe, d.h. sie brachten Geschmack in die Substanz des Daseins.

Die Intellektuellen wurden, analog zu der wechselvollen Geschichte des Kontinents, zum einen zu Nationalhelden, zum anderen wurden sie verfolgt und gemeuchelt. Auch darin unterschieden sie sich nicht vom Rest der Gesellschaft, deren Teile immer auch beiden beschriebenen Schicksalen erlagen. Dennoch, ohne sie wäre vieles anders verlaufen und ohne sie wäre die Geschichte der verschiedenen europäischen Nationen eine fade Angelegenheit.

Irgendwann, in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, da setzte eine Entwicklung ein, die als das Verschwinden der Intellektuellen als markante Gruppe in Europa bezeichnet werden kann. Vielleicht hat es Milan Kundera in einem Essay aus dieser Zeit nolens volens am besten auf den Punkt gebracht. In dem immer noch lesenswerten Essay „Un occident kidnappée oder die Tragödie Zentraleuropas“ beschrieb er, wie er und ein Freund durch die Straßen Prags irren und sich vergeblich überlegen, welchen europäischen Intellektuellen von Format sie denn anrufen könnten, der Partei für sie als zensierte und verfolgte Schriftsteller ergreifen könne. Schließlich fanden sie ihn in Jean Paul Sartre doch, aber der freie, renitente, politisch unabhängige Intellektuelle war in Europa eine Rarität geworden.

Leider lässt sich feststellen, dass sich dieser Zustand verstetigt hat. Die politischen Krisen, in denen sich das heutige Europa befindet, haben an Qualität wie Komplexität zugenommen, aber ein Votum seitens europäischer Intellektueller, die eine internationale Anerkennung aufgrund ihrer eigenen Leistungen genießen, bleibt beharrlich aus. Wie aufreizend wäre es, wenn europäische Intellektuelle aus verschiedenen Ländern den Wahnsinn in der Ukraine, die Brandlegung im Kosovo, den Kulturmord in Portugal, das Auslöschen einer kompletten Generation in Spanien und die Abwicklung einer ganzen Nation in Griechenland anprangern würden. Da wäre es vorbei mit den vermeintlichen Sitten derer, die im Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit stehen und von einer primitiven Journalistenschar dafür gelobt werden, dass sie den Weg der Barbarei dem der Zivilisation vorziehen.

Vielleicht ist es gerade der Medienbetrieb, der vieles zunichte gemacht hat, was das freie Denken betrifft. Aber vielleicht sind es auch die Charaktere heute, die so etwas wie schlichte Standfestigkeit vermissen lassen. Emile Zola drohte für sein „J´accuse!“ das Gefängnis und dennoch zögerte er keine Sekunde, den Artikel zu veröffentlichen. Heute, wo die Gebildeten alles spannend finden, was Geld einbringt, scheint das eine Eigenschaft zu sein, die eher befremdet.