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Brave New World und der Fußball

Und wieder ist es der Fußball, der ein Thema zum Vorschein bringt, das zwar seit langem im Raum steht. An das sich aber niemand so richtig traut. In einer Radiosendung hatte der ehemalige Fußballprofi Mehmet Scholl darüber geklagt, dass die heutige junge Trainergeneration schlimme Defizite hervorbringen werde. Nämlich den Mangel an Persönlichkeiten. Die Trainer selbst, und er nannte Namen wie Tedesco, Nagelsmann und Wolf, seien in den Lehrgängen auf neueste und verschiedensten Systeme geschult, de facto aber einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Das Herausbilden von Persönlichkeiten fehle bei ihnen genauso wie sie es nicht hinbekommen würden bei ihrer zukünftigen Arbeit. Typen wie Robben und Ribéry oder Effenberg würden in Zukunft nicht mehr vorkommen. Die jungen Spieler würden darauf abgerichtet, abzuspielen und dürften sich auf keinen Fall im Dribbeln und im Zweikampf auszeichnen. By the way: dass diese beklagten Entwicklungen allesamt aus dem spanischen Tiki-Taka kommen, um athletische Defizite zu kompensieren, hat Mehmet Scholl nicht erwähnt.

Fakt ist jedoch, dass die von Scholl beklagte Entwicklung im Fußball auch auf den Rest der Gesellschaft zutrifft. Die Charaktere, die stören, die verärgern, die aber dazu in der Lage sind, einen ganzen Laden in einer kritischen Situation aufzurütteln, andere zu motivieren und zu mobilisieren und das Ganze damit zu retten, solche Charaktere werden in der gegenwärtigen pädagogischen praktischen Philosophie nicht goutiert. Wieder mögen die jungen Fußballspieler als Beispiel herangezogen werden. Ihre Beiträge in Interviews sind signifikant. „Der Trainer hat gesagt..natürlich bin ich froh über meine Leistung…aber Hauptsache es dient der Mannschaft..taktische Fragen entscheidet der Trainer…“ Es sind Statements, wie man sie früher einmal Typen zugebilligt hätte, die mit der Bezeichnung „Mamas Liebling“ verhöhnt worden wären.

Analog geht es zu in vielen Leistungsorganisationen. Teamfähigkeit, ein hohes Gut, das allerdings in den seichten Gefilden des Arbeitsalltags zu einem blassen Chorgeist degeneriert, dominiert leider in den meisten Fällen. Wo sind die jungen Leute, die einmal ihre Chefs herausfordern, die einmal das Vorgehen frontal in Frage stellen? Wo sind die Ideen der Veränderung, die eigentlich jeder Generation gut anstehen? Wo ist das Gen der Rebellion, ohne das es keine Innovation gibt?

In vielen Fällen erscheinen die Arbeitsorganisationen wie eine autoritäre Veranstaltung, der es gelingt, ihren hierarchischen und affirmativen Charakter zu verschleiern. Oft sieht es so aus, als gäre es mächtig unter der Oberfläche, aber der Eindruck scheint zu trügen. In einer Welt ohne tatsächliche Gefahren ist das Einüben eines für alle geltenden Kodexes, der die Auflehnung nicht vorsieht, ein leichtes Unterfangen. Dass sich dieses Fehlen irgendwann auf das große Ganze auswirkt, das nicht mehr über Ressourcen verfügt, mit denen man sich zur Wehr setzen kann, haben die Strategen der artigen Befolgung nicht mehr im Blick.

Was in den Kindergärten und in der Vorschule sowie, wie im Brennglas, in den politisch korrekten Mittelstandsfamilien bereits im frühen Entwicklungsstadium beginnt, wird in den Institutionen des Bildungssystems wie in der betrieblichen Ausbildung fortgesetzt. Das Prinzip der Anpassung an ein System und dessen Befolgung ist das Selektionskriterium bei der Personalauswahl. Typen, die über das verfügen, was als individuelle Stärke bezeichnet werden muss, werden in diesem Prozess früh aussortiert. Auch wenn viele Organisationen durchaus erfolgreich arbeiten, was sich nicht mehr haben, ist das, was sehr treffend mit Spirit bezeichnet werden kann. Gleichmaß und uninspiriertes Vorgehen sind die Dimensionen, in der Brave New World tatsächlich stattfindet.

EM: Blütezeit des Positivismus

Auch wenn diese EM für viele Beobachterinnen und Beobachter eine Enttäuschung zu sein scheint, so ist der Erkenntniswert, der von ihr ausgeht, extrem groß. Das aufmerksame Publikum konnte jenseits des Ballspiels sehen, wie sich vor allem britische und russische Hooligans in einem fremden Land aufgeführt haben. Das war gleichermaßen entsetzlich. Interpretiert und verurteil wurde es von offizieller Seite jedoch unterschiedlich und schon waren wir auf einer Plattform, die gut mit dem Terminus Double Standards bezeichnet werden kann. Ziehen wir doch einfach einmal einen logischen Schluss und erkennen, dass die Verrohungspotenziale in der britischen wie in der russischen Gesellschaft äquivalent sind. Und damit es richtig weh tut, seien die isländischen wie walisischen Fans betrachtet, die trotz der gewaltigen UEFA-Geld- und Propagandamaschine gezeigt haben, was Freude am Spiel an sich an positiven Schwingungen produzieren kann.

Aber die letztgenannten Resonanzen sind Nischenphänomene in einem Spektakel, das zu einem regelrechten Überlebenstest für die hoch bezahlten und hoch dekorierten Profis geworden ist. 70-Spiele-Plus ist das Pensum, welches die High Professionals in der zurückliegenden Saison hinter sich gebracht haben. Da ist es kein Wunder, wenn mehr über Achillessehnen, Patella, Muskelfaserriss, Muskelabriss, ramponierte Waden etc. gesprochen wird als über geglückte Fallrückzieher. Das Turnier, noch einmal wegen der Einnahme- und Vermarktungsmöglichkeiten aufgeblasen, ist zu einem regelrechten Humanmaterialtest geworden. Wer jetzt argumentiert, so sähe man auch Nationen wie Island oder Wales, der sollte sich die ungleichen Wettkampfbedingungen vor Augen führen, nämlich ausgelaugte, angeschlagene Profis gegen euphorisierte Amateure, denen die dampfende Wurst vor der Nase hängt, Geschichte schreiben zu können. So werden Illusionen erzeugt, die keiner Überprüfung standhalten.

Nein, die EM hat keine Neuigkeiten in fußballerischer Hinsicht parat. Es sei denn, man betrachtet die Systemvariabilität während eines laufenden Spieles als neuen, sich durchsetzenden Standard. Das ist hoch komplex und wird von vielen Enthusiasten nicht einmal verstanden, aber es ist ein wichtiger Hinweis, der dokumentiert, dass der Fußball wie immer mit den Produktions- und Arbeitsbedingungen korreliert. Natürlich geht es um Erfolg, und natürlich geht es um Geld. Den Fußball an sich gab es noch nie, seine Unschuld hatte bereits noch hinter den Halden der Kohlebergwerke verloren. Aber genau deshalb ist er so relevant, weil er sich zu einem Spiegelfeld der sich entwickelnden, realen gesellschaftlichen Verhältnisse hat etablieren können. Nirgendwo sonst ist die gesellschaftliche Relevanz so präsent wie bei ihm.

Das beste Beispiel für diese These ist die jüngste Auseinandersetzung zwischen dem EX-Profi und Fernsehkommentator Mehmet Scholl und dem DFB. Letzterer hatte Chef-Trainer Löw vorgeworfen, sich zu sehr von den Tablet-Taktikern beeinflussen zu lassen. Er meinte damit die Einheit um den Schweizer Urs Siegenthaler, der IT-gestützt sämtliche Spieldaten der Gegner auswertet und anhand der empirischen Daten Taktikempfehlungen formuliert. Eine solche Empfehlung hatte zu der umstrittenen Dreierkette gegen Italien geführt. Die Art und Weise, wie Löw und Siegenthaler auf diese Kritik reagiert haben, hat deutlich gemacht, dass beide radikale Vertreter eines Positivismus sind. Siegenthalers Replik, vor tausend Jahren hätten auch viele Zeitgenossen geglaubt, die Erde sei eine Scheibe, verhilft dem scheinbaren Streit über eine fußballerische Taktik gar zur Dimension eines Paradigmenstreits. Was im Arbeitsleben immer wieder versucht wird, die totale Steuerung der Menschen durch Maschinenlogik, ist jetzt auch im Fußball angekommen. Das ist ein heißes, ein brandheißes Thema. Es geht darum, ob das menschliche Sein zu einer Randerscheinung mit Relevanz zum Irrtum degradiert wird oder ob es das Zentrum der Kreativität bleibt. Fast zu viel, für eine lapidare Sportart, oder?