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Ostenmauer – 72. Makarenkos Motto

Das Phänomen, mit dem wir uns momentan alle auseinandersetzen müssen, besteht in der Ungewissheit und der aus dieser abgeleiteten Tristesse. Warum das Nicht-Wissen zumeist einen Weltschmerz hervorbringt, liegt wohl im Wesen des Menschen begründet. Zumindest im Wesen dessen, den wir in den gefühlt  final-zivilisatorischen Gesellschaften des Westens antreffen. Kein Veränderungsprozess kann dort beginnen, ohne dass ein immenser Aufwand betrieben und immer wieder kommuniziert wird, dass die bevorstehende Veränderung nichts schlechtes ist, dass sie sogar Vorteile bringen wird und dass niemand bei dem Prozess zu Schaden kommen wird. Die Skepsis bleibt immer und es ist ein aufregendes wie aufzehrendes Geschäft, den Wandel zu gestalten.

Warum das so ist, lässt sich nur vermuten. Dass es in einer Gesellschaft grassiert, die seit der Renaissance für eine ungeheure Dynamik steht, ist hinsichtlich des Kollektivbewusstseins etwas absurd, es sei denn, man betrachtet es durch die Brille der sozialen Kosten, die Umbrüche verursachen und die Adresse derer, die in der Regel den Preis bezahlen. Da sind es immer die gesellschaftlich Schwächsten gewesen, d.h. diejenigen, die selbst nicht in der Lage waren, zu gestalten, selbst wenn sie es gekonnt hätten oder diejenigen, die sich schlicht im Sinne Darwins nicht anpassen konnten. Game over! Rien ne va plus! Ob das zu der heutigen Massenskepsis geführt hat? 

Aber, auch das wissen wir, jammern nützt nichts. Das schrieb schon der längst aus der Mode gekommene Pädagoge des revolutionären Russland, Anton Semjonowitsch Makarenko, über den Eingang einer seiner Musteranstalten für die Eingliederung der Besprisornis, obdachloser, vagabundierender Kinder und Jugendliche, die in den Zeiten des zusammenbrechenden Zarismus ein Massenphänomen waren und die heute unter der Chiffre UMAs ihre modernen Vorboten nach Europa schickt. Nicht jammern! Das stand da, und das war der Ausgangspunkt einer harten Pädagogik, die darauf setzte, Menschen heranzubilden, die sich mit eiserner Disziplin selbst aus dem Morast ziehen konnten und die eine Aufgabe darin sahen, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Der Schriftsteller Maxim Gorki gehörte als Kind dieser Gruppe an und er beschreibt in seinen autobiographischen Erzählungen die Erfahrungen, die er dort machte, und zwar als seine Bildungsetappen.

Das Jammern, seinerseits Massenphänomen unserer Tage, obwohl im Vergleich mit vielen anderen Ländern die Lebensbedingungen als sehr gesichert gelten, stünde einem Teil der Gesellschaft, aber nicht der großen Mehrheit, zu. Insofern handelt es sich um eine Dekadenzerscheinung, die nur den Sinn hat, von der Aktivität konstruktiven Gestaltens abzuhalten und sich an den Szenarien eines möglichen Untergangs zu laben. So lässt sich in der grausamen Dimension der Logik denen, die sich dem Jammern verschrieben haben, eine schlechte Prognose für die Zukunft ausstellen. Das sei all denen ins Journal geschrieben, die eigentlich das Zeug dazu hätten, sich über die Zukunft und ihre Gestaltung Gedanken zu machen.

Und natürlich drängt sich da auch ein Zitat aus den Geschichten aus dem Wienerwald des so unglaublich ums Leben gekommenen Ödon von Horváth auf. Der war bekanntlich auf dramatische Weise den Nazis durch die Maschen gegangen und hatte es bis ins damals noch freie Paris geschafft. Dort flanierte er erleichtert auf den Champs Élysée und wurde bei einem aufkommenden Sturm – von einem herabfallenden Ast erschlagen.

Ach ja, das Zitat: Ich gehe, und weiß nicht, wohin. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin!

Makarenkos Motto

Die praktische Kollision und die Avantgarde

Olga Forsch. Russisches Narrenschiff

Maxim Gorki war es, der sich dafür stark machte, dass die zu Zeiten des Umbruchs und der Revolution aufblühenden Kräfte der Literatur ein Zuhause fanden. Nach der Revolution wurde in Sankt Petersburg ein Haus requiriert, in das sie einzogen. Obwohl sie nicht besser gestellt waren wie die andern Bürgerinnen und Bürger und ebenso auf Essensmarken und rationierten Brennstoff zählen mussten, so hatten sie doch eine Bleibe und einen renommierten Schutz. Aufgrund des Papiermangels war an Publikation nicht zu denken. So wurde aus einer Wohngemeinschaft kreativer, teilweise chaotischer und auf jeden Fall innovativer Kräfte ein Konsortium für das, was getrost als russische Avantgarde bezeichnet werden kann.

Die Autorin des Romans, Olga Forsch, kam selbst aus der Malerei und wandte sich während der Revolution der Literatur zu. Sie kannte das schon bald berüchtigte Haus aus eigener Erfahrung. Und sie gab dem Roman, der als ein Referenzstück der Avantgarde gelten kann, den Namen des Hauses, den es von der Bevölkerung sehr schnell bekam: Russisches Narrenschiff. 

Der Roman selbst ist als ein methodologisches Dokument dessen zu betrachten, was sich auf dem Narrenschiff abspielte. Es geht um unterschiedliche Erzählweisen, um klassische Epik, um soziale Reportage, um Montage, um Traumszenen, um Bühnen-Slaps und um Bekenntnisse. Die geographischen Orte, von denen die Autorin das Haus der Literatur beleuchtet, wechseln, so dass ein Multiperspektivismus entsteht, der notwendig ist, um die Idee der Avantgarde aufzusaugen. Leichte Kost ist das nicht. Und hinzu kommt, dass sich hinter den Figuren tatsächliche Größen der damaligen, zeitgenössischen Literatur verstecken, die, zumindest für das deutsche Lesepublikum, teilweise nur über das exzellente Register erschlossen werden können. Anna Achmatowa, Andrej Bely, Alexander Blok, Alexander Grin, Ilja Ionow, Lew Lunz, Wadimir Majakowski, Nadeshda Pawlowitsch, Boris Pilnjak, Jelisaweta Polonskaja, Jewgeni Samjatin, Viktor Schlklowski, um nur einige zu nennen.

Neben den unterschiedlichen Genres und Sujets, mit denen jongliert wird wie in einem großartigen Varieté, wird mit jeder Zeile deutlich, in welcher historischen Situation sich das Ganze abspielt. Und es kommen unweigerlich die Worte eines Karl Marx ins Gedächtnis, der in der Deutschen Ideologie die Situation beschrieb, wenn es zwischen verschiedenen Klassen um die Macht ging. Er nannte diesen Zustand die praktische Kollision. Dann, so räsonierte er, ginge es in den Kreisen, die sozial schwer und als Klasse gar nicht beschrieben werden können, nämlich den Künstlern, den Wissenschaftlern, den Philosophen, darum, auf welche Seite sie sich schlügen. Um es populär auszudrücken: Wenn es um die Macht geht, dann spielen Fragen der Ästhetik keine Rolle.

Olga Forsch hatte das früh begriffen. Nicht umsonst wählte sie für den Roman Abschnitte, die sie als Wellen zählte. Das Werk endet mit der neunten Welle, bei den Seefahrern bekannt als die gefährlichste bei schwerem Wetter. Die Literaten, die in diesem Haus wohnten, belegen mit ihren Biographien, in welchen Zeiten sie dieses Haus als Labor für ihre Visionen nutzen durfte. Manche verzweifelten und brachten sich um, andere landeten im Gefängnis oder gingen ins Exil und einige überlebten im neuen Russland.

Olga Forsch selbst blieb und wurde ein angesehenes Mitglied des Schriftstellerverbandes. Ihre Werke wurden veröffentlicht. Mit dem Russischen Narrenschiff tat man sich schwer. Es erschien 1930 in kleiner Auflage und dann erst wieder 1964, während der Tauwetter-Periode. Oft hat Geschichte ein kurioses Regiebuch: Ohne Avantgarde kommt es nicht zum Wandel. Und während des Wandels hat es gerade die Avantgarde besonders schwer. 

Makarenkos Motto

Das Phänomen, mit dem wir uns momentan alle auseinandersetzen müssen, besteht in der Ungewissheit und der aus dieser abgeleiteten Tristesse. Warum das Nicht-Wissen zumeist einen Weltschmerz hervorbringt, liegt wohl im Wesen des Menschen begründet. Zumindest im Wesen dessen, den wir in den gefühlt  final-zivilisatorischen Gesellschaften des Westens antreffen. Kein Veränderungsprozess kann dort beginnen, ohne dass ein immenser Aufwand betrieben und immer wieder kommuniziert wird, dass die bevorstehende Veränderung nichts schlechtes ist, dass sie sogar Vorteile bringen wird und dass niemand bei dem Prozess zu Schaden kommen wird. Die Skepsis bleibt immer und es ist ein aufregendes wie aufzehrendes Geschäft, den Wandel zu gestalten.

Warum das so ist, lässt sich nur vermuten. Dass es in einer Gesellschaft grassiert, die seit der Renaissance für eine ungeheure Dynamik steht, ist hinsichtlich des Kollektivbewusstseins etwas absurd, es sei dann, man betrachtet es durch die Brille der sozialen Kosten, die Umbrüche verursachen und die Adresse derer, die in der Regel den Preis bezahlen. Da sind es immer die gesellschaftlich Schwächsten gewesen, d.h. diejenigen, die selbst nicht in der Lage waren, zu gestalten, selbst wenn sie es gekonnt hätten oder diejenigen, die sich schlicht im Sinne Darwin nicht anpassen konnten. Game over! Rien ne va plus! Ob das zu der heutigen Massenskepsis geführt hat? 

Aber, auch das wissen wir, jammern nützt nichts. Das schrieb schon der längst aus der Mode gekommene Pädagoge des revolutionären Russland, Anton Semjonowitsch Makarenko, über den Eingang einer seiner Musteranstalten für die Eingliederung der Besprisornis, obdachloser, vagabundierender Kinder und Jugendliche, die in den Zeiten des zusammenbrechenden Zarismus ein Massenphänomen waren und die heute unter der Chiffre UMAs ihre modernen Vorboten nach Europa schickt. Nicht jammern! Das stand da, und das war der Ausgangspunkt einer harten Pädagogik, die darauf setzte, Menschen heranzubilden, die sich mit eiserner Disziplin selbst aus dem Morast ziehen konnten und die eine Aufgabe darin sahen, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Der Schriftsteller Maxim Gorki gehörte als Kind dieser Gruppe an und er beschreibt in seinen autobiographischen Erzählungen die Erfahrungen, die er dort machte, und zwar als seine Bildungsetappen.

Das Jammern, seinerseits Massenphänomen unserer Tage, obwohl im Vergleich mit vielen anderen Ländern die Lebensbedingungen als sehr gesichert gelten, stünde einem Teil der Gesellschaft, aber nicht der großen Mehrheit zu. Insofern handelt es sich um eine Dekadenzerscheinung, die nur den Sinn hat, von der Aktivität konstruktiven Gestaltens abzuhalten und sich an den Szenarien eines möglichen Untergangs zu laben. So lässt sich in der grausamen Dimension der Logik denen, die sich dem Jammern verschrieben haben, eine schlechte Prognose für die Zukunft ausstellen. Das sei all denen ins Journal geschrieben, die eigentlich das Zeug dazu hätten, sich über die Zukunft und ihre Gestaltung Gedanken zu machen.

Und natürlich drängt sich da auch ein Zitat aus den Geschichten aus dem Wienerwald des so unglaublich ums Leben gekommenen Ödon von Horváth auf. Der war bekanntlich auf dramatische Weise den Nazis durch die Maschen gegangen und hatte es bis ins damals noch freie Paris geschafft. Dort flanierte er erleichtert auf den Champs Élysée und wurde bei einem aufkommenden Sturm – von einem herabfallenden Ast erschlagen.

Ach ja, das Zitat: Ich gehe, und weiß nicht, wohin. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin!