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Scheinrationalität

Nahezu über Jahrzehnte wurden Begriffe wie Zweckrationalität und instrumentelle Vernunft als die Signatur eines technokratischen Zeitalters gebrandmarkt. Der erste stammte von Max Weber, der zweite von Max Horkheimer. Die Arbeit der beiden Geister in ihrer Sequenz umfasste nahezu ein Jahrhundert, der eine war ein Liberaler und der andere hatte marxistische Wurzeln. Beide hatten einen kritischen wie analytischen Blick und es muss wie eine Konkordanz unterschiedlicher Aufklärungsansätze wirken, dass beide den Zweck als das Dominante und Inhumane der kapitalistischen Wirtschaft beschrieben.

Der Vorteil der globalisierten Welt besteht in der Unmöglichkeit, eine ökonomisch und kulturell herausragende Wirkungsweise als für alle aussagekräftig zu bezeichnen. Dazu ist die Welt zu divers, auch wenn die Börsen den Anschein erwecken, als tickten die Zähluhren überall gleich. Agraische wie merkantile Ökonomien spielen nach wie vor gewichtige Rollen. Kategorien wie der Zweckrationalismus und die instrumentelle Vernunft sind zwar auch in diesen Produktionsweisen nicht völlig deplatziert, aber sie dominieren das Denken nicht so wie in der kapitalistischen Produktionsweise.

Phänomenal hingegen ist die Beobachtung, dass sich in den Zentren der hiesigen Ökonomie immer wieder Organisationen ausmachen lassen, denen die Zweckbestimmtheit ihres Handelns unwichtig ist. Das erstaunt, weil es eher einem Stammesfürsten in Afghanistan zugestanden wird als einem modernen Westler, der in metropolitaner Umgebung sein Auskommen sucht. Das Interessante an den Wertschöpfungsprozessen des Kapitalismus ist ihre Fähigkeit, Dinge, Prinzipien und sogar Appelle, die nicht ihrem Prinzip entsprechen und sogar gegen es gedacht sind, in den Kreis ihrer Wirkung zu ziehen und als belebendes Element der Produktions- und Vermarktungsstrategie zu etablieren.

Dada, jene Kunstform, die über den Schock das arrivierte bürgerliche Publikum zum Nachdenken über das Tollhaus der Zweckrationalität bewegen wollte, war eine der frühesten und prominentesten Protestgesten, die in der Mainstreamvermarktung endete. Es folgten viele Formen, vor allem in Kunst und Musik, über Ready Mades bis hin zum Punk, von der Abstraktion bis hin zur Dekonstruktion. Kein Attentat auf die exklusive Sinnstiftung durch die Wertschöpfung, die durchaus unabhängig von den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen vonstattengehen kann, war zu verwegen, um nicht gleich wieder vom Verwertungsprinzip einkassiert worden zu sein.

Umso erstaunlicher wirkt es, dass die Selbstwahrnehmung der auf Schock ausgerichteten Gesten jedes Mal dem Schein der Pionierhaftigkeit und Authentizität nicht widerstehen können und ihre Extravaganz und Einzigartigkeit nach außen kommunizieren. Und die Gesellschaft scheint das Spiel gerne mitzuspielen, als hätte sie nicht alles schon unzählige Male erlebt. Vielleicht ist die Aufgabe des kritischen Bewusstseins gegenüber dem scheinbar Irrationalen so manchen Protestes nichts anderes als das tiefe Verlangen, irgendwann doch dem eisernen Prinzip der Verwertung entkommen zu können.

Begibt man sich in virtuelle Subkulturen, in denen Ideale ritualisiert sind, die schon kaum mehr zur Verwertung taugen, weil die Botschaften bereits x-mal vermarktet wurden, dann erlebt man Zeitgenossen, die sich mit einer Inbrunst der Scheinerzeugung widmen, als hätte Zweckrationalität wie instrumenteller Vernunft das letzte Stündchen bereits geschlagen. Es existieren Welten, in denen die Zweckrationalität durch eine Scheinrationalität ersetzt wurde. Erstere überlässt der letzteren die Autonomie so lange, wie es braucht, um in den Schoss des Mutterprinzips wieder zurückkehren zu können. Ein System, das seine Vitalität aus der feindlichen Geste zieht, scheint gegen alles gefeit zu sein.

Politik ist die Herrschaft der Verwaltung im Alltag

Der Kontakt der Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat entsteht über das Handeln der Verwaltung. Egal, ob es sich um Steuerangelegenheiten handelt, der Erwerb eines Ausweises ansteht, eine Genehmigung eingeholt werden muss oder eine Lizenz angestrebt wird: je nach Zuständigkeit und gesetzlicher Bestimmung müssen die Bürgerinnen und Bürger zu einer Bundes-, Landes- oder Kommunalbehörde. Das, was sie dort erfahren, ist die sinnliche Wahrnehmung von Politik, was Max Weber zu treffenden Formulierung veranlasste: Politik ist die Herrschaft der Verwaltung im Alltag.

Denn das politische Mandat, welches die Wählerschaft den Gewählten mitgibt, ist die Autorisierung, über Gesetze und deren Vollzug das gesellschaftliche Leben zu gestalten. Verwaltungshandeln selbst hingegen ist bis zu einem gewissen Grad apolitisch, allerdings nur in der Hinsicht, dass sie per se unbestechlich zu Werke gehen muss. Die Auslegung und Interpretation von Gesetzen und gesetzlichen Bestimmungen, die Art und Weise, wie Dienstleistungen ausgeführt werden und die Wahl der thematischen Schwerpunkte sind jedoch Ausdrucksweisen eines politischen Willens, der hinter dem Verwaltungshandeln steckt.

In Deutschlang existiert eine Tradition, die gerne den Irrglauben suggeriert, Verwaltung sei etwas Unpolitisches. Die Denkweise entstand wahrscheinlich in der Verwaltung selbst, um die Entscheidungen, die dort getroffen werden, nicht legitimieren zu müssen. Zwar wird bei der Argumentation immer auf das Recht und die Fachlichkeit verwiesen, es wird jedoch ausgeklammert, dass es zumeist zumindest keine neutrale Fachlichkeit gibt. Sei es im Bereich der Bildung, des Sozialen, der Verteidigung, der Finanzen, des Personals – überall entscheidet die politische Programmatik, wie das Verwaltungshandeln schließlich agiert.

Bin ich für Ganztagsschulen oder insistiere ich auf dem dreigliedrigen Schulsystem, bin ich für eine Alimentierung von Arbeitslosigkeit oder investiere ich in Qualifikation und neue Arbeit, konzentriere ich mich auf die Landesverteidigung oder rüste ich mich für militärische Interventionen, für welche thematischen Schwerpunkte gebe ich wie viel Geld aus, finanziere ich die Entstaatlichung oder investiere ich in Infrastruktur und Bildung und wo will ich als Staat, Land oder Kommune mit welchem Personal präsent sein? Das alles sind hoch politische Fragen, die die Bürgerschaft bewegen und von der Politik beantwortet werden müssen.

Kein Wunder, dass die Bürgerinnen und Bürger sogar das Handeln der Verwaltung im Alltag als konkretes Maß für die Bewertung von politischer Herrschaft nehmen. Das Verwaltungshandeln ist die Tat, an der man die Worte der Politik misst. Eigenartigerweise haben Politiker des Öfteren diese Wirkung nicht auf dem Radar, wahrscheinlich, weil sie auch der Mystifikation unterliegen, die Verwaltung sei politisch neutral. Dabei agiert in und mit ihr eine unsichtbare Macht, die allerhöchst politisch ist.

Egomanie als politisches Programm

Max Weber, der Soziologe mit Scharf- und Weitblick, der sich der Wechselwirkung von Wirtschaft und Gesellschaft ebenso klug wie der Säkularisierung unserer Gedankenwelt widmete, von diesem Max Weber stammt ein fast lakonisch formulierter Satz, den wir uns heute zu eigen machen sollten, um das genauer zu betrachten, was als phänomenologisches Mirakel durch die Gazetten und Internetseiten gejagt wird. „Politik ist Herrschaft der Verwaltung im Alltag.“

Was als Selbstverständlichkeit durch den Gehörgang an unseren Verstand und unser Bewusstsein zu klopfen scheint, entpuppt sich als eine Botschaft mit explosiver Nachwirkung. Wenn dem so ist, dann wäre der Zustand der Politik noch schlechter als oftmals gefühlt. Nicht, dass Verwaltungen in den letzten Jahrzehnten nicht versucht hätten, sich mit Dienstleistungsangeboten den Bürgerinnen und Bürgern zu nähern. Nicht, dass Verwaltungen nicht versucht hätten, ihr Handeln verständlicher zu machen. Und erst gar nicht, dass wir den Verwaltungen par excellence unterstellen müssten, sie verstünden sich als Herrschaftsinstrument!

Nur, bei genauem Hinsehen ist selbst einem nicht mehr ganz so scharfen Auge recht schnell klar, dass die Steuerung der Verwaltung durch die Politik bis auf wenige Ausnahmen darin besteht, die exklusiv politisch beschlossene Entmündigung der Bürgerschaft durch ein immer dichter werdendes Netz von Regelungen und Verordnungen aggressiv durchzusetzen. Zugrunde liegt ein Weltbild, das in seiner Tiefe fußt auf Misstrauen und Verachtung. Misstrauen in die bewusste und freie Entscheidung selbstständiger Individuen und Verachtung gegenüber denjenigen, die ohne Bevormundung ihr Leben selbst nicht mehr gestalten könnten. Der Verfall der Bildung und die Erosion der Werte, die durch Erziehung vermittelt werden, tragen dazu bei, den Herrschaftsmythos des wohlmeinenden Staates über seine unmündigen Glieder zu etablieren.

Das entspräche insoweit alten Klischees von Herrschaft und Unterdrückung, wenn wir auf Seiten der Macht die universal Gebildeten und auf Seiten der Bemächtigten die Dummen sähen, die die heute Mächtigen so gern als Bildungsferne bezeichnen. Doch, so ist leicht festzustellen, dem ist nicht so. Die politische Klasse unterscheidet sich weder in ihrem Bildungsgrad noch in ihrer sittlichen Qualität signifikant von denen, mit denen sie es gerne treiben. Die Bürgerschaft wird gegängelt durch Bevormundung von temporär Herrschenden, die an ihre eigene Begünstigung denken und in den meisten Fällen nicht einmal mehr im Bewusstsein haben, in welchem Auftrag sie eigentlich handeln. Sie werden getrieben von profaner Egomanie.

„Politik ist Herrschaft der Verwaltung im Alltag.“ Das nicht nur Beschreibung, sondern gerinnt angesichts unserer täglichen Erfahrung zu einer bitteren Erkenntnis. Aber Wut allein macht es nicht aus, appellierte Berthold Brecht und fügte ebenfalls lakonisch hinzu: „So etwas muss praktische Folgen haben.“