Die Zeiten, in denen Massenpsychosen außergewöhnliche Zustände der Gesellschaft beschrieben, scheinen lange vorbei zu sein. Zeiten, in denen ein einziges Phänomen ausreichte, um eine längere gesellschaftliche Periode zu erklären, wie zum Beispiel die von dem umstrittenen Psychologen Wilhelm Reich durchaus zutreffend nachgezeichneten Phänomene der Massenpsychologie des Faschismus, die wirkten, bis sie im Untergang ihren Höhepunkt fanden.
Heute scheint es, als sei die Massenpsychose die große Überschrift über einen nicht abreißenden Zustand mit kurzen, immer kürzer werdenden Zuckungen. Gleich dem großen Bewegungsverlauf der nicht auszuhaltenden Beschleunigung jagt eine Psychose die andere. Dass da keine Zeit mehr bleibt, zu analysieren, was da eigentlich vor sich geht, versteht sich nahezu von selbst.
Man muss sich nur die einzelnen Episoden aneinanderreihen, um ein Bild davon zu bekommen, wie es um das Seelenleben der Gesellschaft bestellt ist. Noch vor der Jahrtausendwende dauerte das alles etwas länger, da hielten bestimmte Begriffe die Gesellschaft wenigstens einige Jahre in Atem, auch wenn die Hysterie genauso intensiv war. Da waren noch Fanale wie Tschernobyl, Lüchow-Dannenberg, der Borkenkäfer oder das Rauchen. Da konnten sich auch politische Kampagnen formieren, die wenigstens zu einem Diskurs führten und Schlussfolgerungen hervorbrachten, die zumindest ein Pro und Kontra im Denken zuließen. Aber spätestens mit Anbruch des 21. Jahrhunderts wurden die Gravitationskräfte außer Kraft gesetzt.
Dann kam PISA und das völlige Aus für die Zukunft. Vielleicht war das auch die Zäsur, weil mit der Überforderung der Gesellschaft, eine vernünftige Analyse einer erodierenden Bildung zustande zu bringen, genau die Voraussetzungen schuf, die notwendig gewesen wären, um der Hysterie die notwendigen Grenzen zu setzen. Seitdem gibt es aber kein Halten mehr. Der ganze Kanon dessen, was allgemein als Political Correctness beschrieben werden kann und dessen Autoren wie durch Zufall bis heute unbekannt blieben, wurde durchgehechelt. Missbrauchsfälle in alle Richtungen, sexueller, politischer, gesundheitlicher Art, in Bezug auf die Umwelt und die Moral, stattgefunden in der eigenen Gesellschaft oder in anderen Ländern dieser Erde, sie halten die Gesellschaft immer wieder in Atem, ohne dass es gelänge, zu fragen, ob der Kanon überhaupt sinnvoll ist oder, wenn ja, woran es liegt, dass plötzlich zu Bewusstsein kommt, dass irgend etwas nicht funktioniert, dass massenweise etwas geschieht, das eigentlich niemand will und dass so etwas überhaupt passieren konnte, ohne dass irgendwann die Anfänge irgend jemandem aufgefallen wären.
Es bietet sich an, die Erklärung dort zu suchen, wo das Leben im Alltag, im Profanen, nicht dem entspricht, was angeblich als politische Kultur für alle vorausgesetzt wird. Denn lange schon lebt ein Großteil der Gesellschaft nach den Maximen, die, vorsichtig ausgedrückt, als ziemlich utilitaristisch, wenn nicht egoistisch bezeichnet werden müssen. Da wird dann plötzlich, bei einer Abweichung von der irrtümlich angenommenen Allgemeingültigkeit deutlich, dass massenhaft etwas anderes geschieht. Und dann beginnt ein Reinigungsprozess, der sehr große Analogien zu den großen Prozessen der Heiligen Inquisition aufweisen. Das wird dann jedesmal heftig, dann müssen viele mit gesellschaftlicher Ächtung für etwas bezahlen, was von der Gesellschaft selbst bis zum Zeitpunkt der großen Eruption durchaus gebilligt worden ist.
Vieles spricht dafür, dass die Massenpsychose eine sich selbst stimulierende und regulierende Erscheinung ist, die aus dem Nicht-Vorhandensein eines gesellschaftlichen Konsenses resultiert.
