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Kriege, Krisen und die Zukunft

Auch wenn es für Außenstehende absurd klingt. Die Menschen, die in Europa leben, sind nicht zu beneiden. Zwar lebt ein Großteil von ihnen in Regionen und Verhältnissen, in denen die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz befriedigt werden können. Die Tendenz, das nebenbei, zeigt seit einiger Zeit in eine andere Richtung. Nein, das, was die Europäerinnen und Europäer an Krisen, Kriegen und Stress in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, ist nicht zu unterschätzen. Es ist ein Märchen, wenn immer von der langen Periode des Friedens erzählt wird, da frage man einmal Menschen aus der Ukraine oder vom Balkan. Manche sitzen als Kollegen im Büro oder stehen in der gleichen Fabrikhalle. Sie kamen, weil sie vor einem Krieg flohen, an dessen Führung die EU direkt oder indirekt beteiligt war.

Doch das war lokal begrenzt, was es nicht mildert, aber das Gros der Europäerinnen und Europäer gar nicht als störend empfunden haben. Was jedoch gestresst hat, das waren Krisen. Und zwar eine nach der anderen. Und zwar in direkter Folge. Diese Krisen haben immer ein, zwei oder drei Jahre gedauert. War eine beendet, begann sofort die nächste. Bankenkrise, Weltfinanzkrise, Schuldenkrise, Terroranschläge mit vielen Toten, in Paris, Madrid, London, Nizza, Berlin, Amsterdam, die Immigrationsbewegung, ausgelöst durch Kriege, vom Balkan, aus Afghanistan, aus dem Irak, aus Syrien, aus Libyen, der Brexit, Corona. Die Chronik ist grausam. Nicht, dass es für viele Erscheinungen nicht auch präzise Erklärungen gäbe, aber in gewisser Weise erscheint die Intensität wie die Dichte der Krisenchronik doch etwas viel für Menschen, die morgens aufstehen, zur Arbeit gehen und ihr Leben selbst organisieren müssen. 

Da wir in Zeiten leben, in denen die Rolle der Vermittler, d.h. der Lehrer, Priester, der Parteien und der Intellektuellen immer weniger eine Rolle spielt, war die Suche nach Erklärung und Trost eine verständliche Folge. Es schlug und schlägt die Stunde der Dunkelmänner, der Scharlatane, der Demagogen und der Obskurantisten. Das scheint unlogisch, denn die Lehrer und Parteien sind doch am Verschwinden. Sie machten den Fehler, sich weiter an den tradierten Schemen zu orientieren, während die demagogischen Quacksalber eines beherrschen, den Umgang mit den digitalen Medien und ihrer möglichen Wirkung. Sie begriffen schnell Marshall McLuhans weise Prognose, dass das Medium die Botschaft selbst ist. Sie sind zunehmend Master of the digital Universe und sie versorgen die Beladenen, Verlorenen und Gestressten mit Botschaften der Deutung und sie suggerieren Zustände, die die zerstörte Ordnung wieder in eine vermeintlich sichere Welt zurückverwandeln. Richtig schlimm wird es, wenn die alten Priester sich dann auch noch dieser Demagogie bedienen, weil sie sehen, dass sie greift.

Es ist immer und überall das Gleiche. Back to Order war nicht nur ein dominierender Slogan der Brexiteers, sondern er könnte auch über allem stehen, das Trost spenden soll. Verständlich ist das Bedürfnis nach wiederhergestellter Ordnung schon, nur wissen alle, dass das nicht möglich ist. Umso mehr ist es an der Zeit, sich mit der Zukunft zu befassen. Wie sie aussehen soll, wer in ihr eine Rolle spielen sollte und wer besser nicht. Alles andere führt nicht weiter. Europa ist gestresst, es sehnt sich nach einem Befreiungsschlag, der nicht in Ressentiment und Hass umschlagen darf. Es wird endlich Zeit, konstruktiv zu werden und sich damit zu befassen, wie eine bessere, den Bedürfnissen und Umständen entsprechende Ordnung aussehen soll. 

„Inhale the Future, 

exhale the Past!“

Kulturelle und mediale Hegemonie

Um ihn und seine Thesen kam und kommt es immer zu Auseinandersetzungen, die sich mehr aus dem Phänomen des Dogmatismus erklären lassen als aus der Sache. Er kam seinerseits aus der Literatur und fand durch sein Gerechtigkeitsgefühl und seine Vorstellung vom Kampf gegen die Armut in die Politik. Jung, wie er war, zählte er zu den Mitbegründern der Kommunistischen Partei Italiens, deren Vorsitzender er sogar für drei Jahre war. Er starb 1937 mit gerade einmal 46 Jahren und hinterließ der Nachwelt vor allem eines: sein Theorem von der kulturellen Hegemonie. 

Die Rede ist von Antonio Gramsci (1891 – 1937). Die wenig fruchtbare Debatte aus dem historischen kommunistischen Umfeld ist heute nicht mehr von Interesse. Was sich jedoch aufdrängt, das ist der Aspekt, den seine These von der kulturellen Hegemonie ausleuchtete. Denn da ging es um etwas, das heute, in einem Zeitalter, das sich das der Kommunikation nennt, unbedingt Beachtung finden muss. Gramscis Kernaussage ist leicht zu umschreiben. Kulturelle Hegemonie bedeutete für ihn, in der Lage zu sein, mehrheitsfähige Ideen zu produzieren. 

Das Sympathische an Gramscis Theorem ist seine auf die geistige Auseinandersetzung fokussierte Betrachtung. Es dabei zu belassen und nicht die waffenstarrenden Machtverhältnisse zu beachten, wäre ein schwerwiegender Fehler. Aber deshalb die Kernthese zu verwerfen, hätte den gleichen verwerflichen Charakter. Es geht darum, sich in die Lage zu bringen, Ideen und Visionen zu entwickeln, die geeignet sind, Mehrheiten zu mobilisieren. 

Gegenwärtig entwickelt sich eine mehrheitsfähige Vorstellung vom Umgang zwischen menschlichen Produktions- Konsumtions- und Eigentumsverhältnissen. Der Konsens besteht jedoch in einer Ablehnung dessen, was geschieht und es liegen noch keine oder kaum mehrheitsfähige Vorstellungen von der Perspektive vor, die zu entwickeln ist. In Bezug auf Gramscis Hegemoniebegriff ist das zu wenig. Kulturelle Hegemonie bedeutet nicht die kollektive Ablehnung des Bestehenden, sondern die Verfügbarkeit eines Planes für die Zukunft, der ebenfalls auf große Zustimmung stösst. Zudem sind wesentliche Themen noch nicht oder nicht mehr im Fokus. Der wohl gravierendste Bereich, die Führung von Aggressionskriegen, liegt in der Ablehnungslinie weit hinter dem Ökologiegedanken zurück, obwohl das Phänomen aktuell lebensbedrohlicher ist als das genannte.

Wenn es also darum geht, die kulturelle Hegemonie zu erlangen, um eine Politik der notwendigen radikalen Veränderung mehrheitsfähig zu machen, dann liegen noch große Aufgaben auf dem Tableau. Es gilt, neben Enthüllung und Ablehnung, das positiv Neue konkret zu benennen. Und, im Rekurs auf das Kommunikationszeitalter gilt es, sich mit den Technologien der Kommunikation en detail zu befassen. Neben der Lektüre Gramscis sei in diesem Kontext auf den kanadischen Philosophen Marshall McLuhan (1911 – 1980) verwiesen, der mit seinen Thesen über die kommunikative Moderne Bahnbrechendes geliefert hat und der wie kein anderer das, was in diesem Zusammenhang am besten als mediale Hegemonie beschrieben werden kann, antizipiert hat. McLuhans Kernsatz, das Medium ist die Botschaft, hat exakt das beschrieben, was die globalisierte Moderne beherrscht und die meisten Beobachter nahezu fassungslos macht. 

Eine Dechiffrierung der medial-technischen Wirkung ist Vorbedingung für den Erfolg von den Ideen, die fähig sind, um die kulturelle Hegemonie zu erreichen. Denn wenn das Medium die Botschaft ist, dann ist der Besitz der Medien wichtiger als die Produktion guter Ideen. Es herrscht also eine essentielle Korrelation zwischen Medienverfügbarkeit und inhaltlich mehrheitsfähiger Ideen. Die Aufgaben, die sich daraus ergeben, sind anspruchsvoll, aber sie zu bewältigen ist nicht aussichtslos. Die Entwicklung medialer Verfügbarkeit scheint gegenwärtig weiter zu sein als die Positivfolie für die kulturelle Hegemonie. Aber wie heißt es so schön?

Einem Zustand relativer Ruhe folgt eine Phase rascher Veränderung!

Das Absingen schmutziger Lieder aus der Ferne

Marshall McLuhans zentrale Botschaft sei noch einmal auf den Prüfstand gelegt: Das Medium ist die Botschaft! Vieles spricht dafür und wenn dem so ist, dann trifft das genauso auf die sozialen Medien zu. Die Faszination, die sie ausüben, ist die nahezu banale Bedienung und die Überwindung von Raum und Zeit. So können nicht nur tatsächliche, sozial unmittelbar entstandene Kontakte gehalten und gepflegt, sondern auch zufällige, artifizielle Beziehungen hergestellt werden. Plötzlich sind die einzelnen Teilnehmer nicht mehr angewiesen auf die Möglichkeiten wie Barrieren einer direkten Begegnung. Ein feuchter Händedruck, olfaktorische Penetranz, ein unsicher Blick oder eine quäkende Stimme, das alles belastet nicht mehr bei der Kontaktaufnahme und es verlangt ganz andere Fähigkeiten, die eine oder andere individuelle Malaise in der virtuellen Welt zu dechiffrieren.

Das Eigentliche, worüber jedoch reflektiert werden muss, das ist die Reduktion der sozialen Komplexität, die das soziale Medium herstellt. Da geht es schlicht um binäre Entscheidungen über Profanes. Mögen oder Nicht-Mögen. Da stellt jemand ein Bild von einem Essen auf seinen Account, und schon reagieren die Freundinnen und Freunde darauf mit einem Mögen oder Nicht-Mögen. Im direkten sozialen Kontakt wäre eine solche Disposition zweifelhaft. Wer fragt schon, wenn ihm sein Essen serviert wird, die sich in der Nähe befindlichen Menschen, ob ihnen das gefällt, was er auf dem Teller hat? Zumindest würden einige Umstehende ihr Befremden zum Ausdruck bringen. Die Reihe lässt sich fortsetzen, zum Beispiel das Posten von Selfies. In der direkten sozialen Konfrontation wäre das Risiko, eine Debatte über die eigene Eitelkeit auszulösen, viel zu groß.

Doch die eigentliche Veränderung, die durch die sozialen Medien erfolgt, ist die Veränderung des Diskurses in eine Abfrage reflexartiger Zustimmung oder Ablehnung. Durch die Reduktion von Komplexität auf Mögen oder Nicht-Mögen verschwindet die Auseinandersetzung um komplexere Lebensperspektiven nicht nur aus den Köpfen, sondern es sinkt auch die Fähigkeit, dieses zu tun. Diejenigen, die mit den sozialen Medien, deren Fähigkeit, die einzelnen Mitglieder mikroskopisch auszuspionieren hier nicht betrachtet werden soll, aufwachsen, haben in einem echten Dialog, der nicht nur aus einem sozialen Konsens besteht, keine Chance. Wer die Möglichkeit des Widerstandes gegen die eigene Meinung oder den eigenen Standpunkt nicht kennt, der hat auch nicht gelernt, um ein Thema in verschiedenen Variationen zu kreisen, die Perspektive zu verändern und, das wohl wichtigste, sozialem Druck standzuhalten.

Die sozialen Medien sollen damit nicht verdammt werden. Sie sind nicht mehr wegzudenken. Aber sie sollten mit ihrer verheerenden Wirkung auf die Diskursfähigkeit der ganzen Gesellschaft nicht unterschätzt werden. Ein Indiz für die Unterlassung kritischer Sicht und die Ergreifung notwendiger Maßnahmen dagegen ist das tatsächliche Schwinden kontroverser Betrachtungen. Genauer gesagt, die unterschiedlichen Standpunkte verschwinden nicht, aber die Fähigkeit, sich in einer harten, aber sozial akzeptablen Form darüber auseinanderzusetzen. Mit der Abnahme der Fähigkeit, sich sozialem Druck zu stellen und die eigenen Motive freizulegen und offen zu verteidigen, ist die Fähigkeit der Diskreditierung und Diffamierung gestiegen. Um es deutlich auszudrücken: Das Absingen der berühmten schmutzigen Lieder aus der Ferne ist der neue Weltsport geworden, während der Streit mit dem vis-a-vis kaum noch beherrscht wird. Das gilt im Privaten wie in der Öffentlichkeit, das betrifft den berühmten kleinen Mann wie den Amtsträger. Und das wirkt schlimmer als militärisches Equipment. Das kommt zur Geltung, wenn der Diskurs misslungen ist.