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Rezepte aus der Küche des Infernos

Es hilft alles nichts. Die Wirren werden größer. Egal, welches Feld der Betrachtung unterzogen wird, alles hat den Anschein, als brächen die alten Gewissheiten weg wie die Illusion von einem Sommer, der nicht mehr zu kommen scheint. Wie zur tropischen Regenzeit beginnt die Psyche an dem alles überdeckenden Gefühl des Versinkens zu verzweifeln. Nichts hält mehr. Alles ist durchtränkt von der zersetzenden Kraft der Auflösung. Da wird es schwer, etwas zu finden, an das sich die Hoffnung noch Klammern kann.

Das, was als die Sicherheit des Lagers bezeichnet werden kann, die letzte Bastion der Ruhe, geht den Gang genauso wie alles andere auch. Es scheint eine weltweite Symmetrie des Niedergangs zu existieren. Freiheiten, die als sicher galten, werden zermalmt von Maniaks, die vom Rausch der Gewalt getrieben werden, die wie die Berserker durch die Weltgeschichte rasen und ihre Brandspuren hinterlassen. Gleich wo, in Orlando oder Kiew, in Marseille oder Lille. Plötzlich sind es nicht mehr die, die im Auftrag einer wie auch immer definierten Ideologie mit stumpfen Schwertern Köpfe abschlagen oder mit kalten Drohnen Familienfeste in ein heißes Bad des Untergangs verwandeln. Plötzlich sind es Barbaren, die ihre privaten Untergänge Ihrer Umgebung überstülpen wollen. Da gibt es kaum noch Halt, da helfen staatliche Institutionen nur noch wenig, da herrschen Messer und Mord, wohin das traurige Auge blickt.

Und wenn die gesellschaftlichen Sicherheiten zu erodieren drohen, dann kommt die böse Variante des irreversiblen Trugs. Da glauben viele, die sich nicht mehr zu helfen wissen, dass die Auferstehung der Feindbilder noch etwas hergeben, das Gemeinschaft verheißen könnte. Da wird jede Gelegenheit ergriffen, um die alten Klischees, die tausendmal schon das Verderben vorbereitet haben, wieder zu bedienen. Was das bringt, ist jeden Tag von Neuem zu betrachten. Es wird schlimmer, es wird immer irrationaler und vor allem, es hilft nicht. Der Logik der Zerstörung die Gegenzerstörung entgegenzusetzen, das ist ein Rezept aus der Küche des Infernos. Und trotzdem ist diese Rezeptur allgegenwärtig, in der Politik, im Sport, im großen Rauschen der Kommunikationskanäle.

Die Geschichte bietet verschiedene Varianten des Verlaufs. Entweder alles strebt auf die noch größere, finale Katastrophe zu, oder es regt sich etwas, das aus den Köpfen derer kommen wird, die das Verhängnis in seiner Kontur zu erkennen in der Lage sind. Wenn alles, was sich institutionell formiert hat, den Verstand zu verlieren beginnt, dann ist die Stunde derer gekommen, die das Spiel des Profanen beherrschen. Sie sind jetzt am Zug. Wer, wenn nicht sie, können mit ihrer konkreten Lebenspraxis Zeichen setzen. Wer jetzt wartet, oder noch schlimmer, abwartet, der kann nicht mehr für sich reklamieren, etwas anderes zu wollen.

Die Muster sind bekannt. Es existiert kein Unterschied mehr zwischen der großen Politik und dem kleinen privaten Terrain, auf dem das Individuum schreitet. Das Individuum, das noch weiß, was richtig und falsch, gut oder böse ist, hat nun die Aufgabe, sich zu erheben und deutlich Position zu beziehen. Ja, der Zweifel an dieser These ist wie immer laut, aber wer sich nicht im Defätismus baden will, der muss sich jetzt zu Wort melden. Die Erosion eines gesellschaftlichen Sinns schreitet nur voran, wenn keine Gegenwehr mehr existiert. Wer dazu nicht mehr bereit ist, wird verloren sein, wie alle, die glauben, Zuzuschauen und den Kopf zu schütteln würde irgend etwas ändern.

Ein trauriges und ein dummes Gesicht

Bis jetzt hat die Europameisterschaft nichts gezeigt, was auf eine Weiterentwicklung des Fußballs hindeutet. Stattdessen unterstützt der bisherige Verlauf die These, dass im Sinne einer Diagnostik doch einiges festgestellt werden kann. Aber die diagnostischen Resultate beziehen sich weniger auf das, was auf dem Platz geschieht, als auf die Organisation und die so genannte Kultur in den Verkehrsformen in den Stadien, um die Stadien herum und auf den Kommunikationskanälen.

Auf dem Platz war bis jetzt nichts Neues zu sehen. Frankreich debütierte mühselig und ohne System, die Schweiz rettete sich gegen Albanien mit einem guten Torwart und England zeigte wieder einmal mehr, dass das Getöse der Ankündigung wesentlich lauter ist als das, was hinterher auf dem Platz zu beobachten ist. Bis jetzt hat Wales gezeigt, dass sich Enthusiasmus, ein Superstar und der Wille von Edelamateuren zu etwas formen lassen, das sich mit Spaß ansehen lässt.

Das, was nicht als Fortschritt präsentiert werden konnte, brillierte im Rückschritt. Um aus der EM ein neues Kapitel anti-russischer Propaganda zu machen, dazu bedurfte es vor allem randalierender englischer Fans in Marseille, eines tosendes Pfeifkonzerts selbigen Mobs beim Abspielen der russischen Hymne und eines ZDF-Reporters, der das Spiel Russland gegen England zu einem Festival des Ressentiments machte.

Wäre das Spiel nach den Begutachtungen des Scharlatans, der das Spiel kommentierte gegangen, dann hätte das Spiel mit 17:0 für England ausgehen müssen. Es endete allerdings 1:1. Das mag nun von denen erklärt werden, die sich dafür berufen fühlen. England blieb schlicht vieles schuldig, was niemand eingestehen wollte. Russland spielte taktisch einen überschaubaren Fußball, der keinerlei großartige Idee vermittelte, aber ausreichte, um dem hochgepimpten Favoriten die Suppe zu versalzen. Bleibt abzuwarten, ob noch etwas von diesem Turnier zu vermelden ist, was in fußballerischer Hinsicht interessant wäre.

Dafür darf aus dem fernen Louisville in Kentucky berichtet werden, dass dem türkischen Präsidenten Erdogan einmal gezeigt wurde, wer die Tischsitten bestimmt. Das hat natürlich nichts mit der EM zu tun, aber mit dem traurigen Bild, das Europa momentan vermittelt schon. Besagter Erdogan wollte nämlich das Begräbnis Muhammad Alis nutzen und zu einer Propagandaschau für sein immer unberechenbareres Ego machen. Er hatte geplant, vor Alis Grab Verse aus dem Koran zu zitieren und eine kostbare Reliquie aus Mekka auf den Sarg zu legen. Das mit dem Sarg hätte ihn schon etwas skeptisch stimmen sollen, denn Muslime benutzen so etwas bekanntlich nicht. Aber das ist auch nur ein Nebenaspekt.

Jedenfalls landete Erdogan mit seiner Entourage, unter der sich wie selbstverständlich seine Bodyguards befanden, in den USA und verkündete den Organisatoren von Alis Beisetzung seine Pläne. Diese teilten ihm trocken mit, dass die Zeremonie so durchgeführt werde, wie Ali es gewollt hätte und keine Veränderungen vorgenommen werden würden. Als sich der Mann, der keinen Widerstand gewohnt ist, umrahmt von seinen Schlägern, aufzuplustern begann, tauchte eine Abteilung des FBI auf und bat ihn um ein Gespräch. Dieses Gespräch kann am besten mit der Formulierung beschrieben werden, dass ihm gehörig heimgeleuchtet wurde. Überliefert ist nur, dass gerade noch einmal Zeit blieb, um seine Maschine wieder aufzutanken, bevor der ganze Tross sich wieder in der Luft Richtung Türkei befand.

Was lehrte dieses Wochenende bisher? Europa hat eine ernsthafte politische Krise und der türkische Potentat beginnt sich mit dem Imperium anzulegen. Wäre er noch lernfähig, so müsste er nun wissen, dass er nicht nur schnell wieder in den Lüften schwebte, sondern so langsam auch ganz ernsthaft in Lebensgefahr. Doch auch das wissen wir: je größer die Macht, desto schwerer tut man sich mit dem Lernen.

Massenflucht aus Europa

Anna Seghers. Transit

Gute Romane zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Handlung in einem konkreten historischen Rahmen stattfindet und das Erzählwerk hilft, die konkret beschriebene Zeit in ihrer Vieldeutigkeit zu entschlüsseln. Eine besondere Qualität entsteht allerdings durch ein Phänomen, dem nicht aus Zufall die sehr guten, großen Narrative unterliegen. Sie treffen eine human existenzielle Problematik, die zwar in einer konkreten historischen Situation thematisiert wird, aber sie greifen das Thema so treffend und in seiner Widersprüchlichkeit so akzentuiert auf, dass die konkrete Historie irgendwann unbedeutend wird. Irgendwann, nach dem die konkrete Situation, in der die Handlung stattfand, längst in den Annalen aufbewahrt wird, wird deutlich, dass der Roman immer wieder eine Renaissance erfährt, weil sein Thema und seine Komplexität zu einem Teil der menschlichen und gesellschaftlichen Selbstreflexion geworden ist, die kulturgeschichtlich in einen weitaus größeren Abschnitt gehört als das konkret Erzählte.

Netty Reiling, später Radvanyi, die unter dem Pseudonym Anna Seghers weltbekannt wurde, ist mit dem Roman Transit ein solches Werk gelungen. Eigentümlicherweise war genau dieses Buch nicht geplant und es störte in Konzeption und Niederschrift auch den späteren Welterfolg Das siebte Kreuz, an dem sie bereits arbeitete. Doch ihre konkreten Erfahrungen mit ihrer eigenen Flucht samt Familie vor den Nazis drückte ihr das Thema ins aktuelle Journal. Anna Seghers folgte selbst der im Roman beschriebene Route über Paris in den noch nicht besetzten Süden Frankreichs und in Marseille wartete sie auf ein Schiff, das sie und ihre Familie in Sicherheit bringen sollte. Selbst die beschriebene Route des Schiffes über Martinique nach Mexiko entsprach dem, was ihr glücklicherweise gelang.

Transit ist eine eindringliche Dokumentation über den Kampf zwischen Verzweiflung und Bürokratie. Auf der einen Seite diejenigen, die alles verloren haben auf der Flucht vor einem Todfeind und alles setzen auf die erlösende, endgültige Flucht auf einen anderen Kontinent. Und auf der anderen Seite die komplizierten prozessualen Bedingungen zwischen unterschiedlichen Nationen und deren Behörden, um eine Erlaubnis zu bekommen, das Land Frankreich zu verlassen, andere Länder zu durchreisen und letztendlich Zielländer zu betreten. Zu Tausenden saßen sie in Marseille, warteten, waren depressiv und apathisch oder agil und suchend, hier eine Ausreiseerlaubnis, dort ein Transit, und woanders wieder eine Einreisegenehmigung. Dazu gehörten Herkunftsnachweise, polizeiliche Führungszeugnisse, Testate über politische Verfolgung oder die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, so ganz nebenbei eine historische Relativität, die Europa jenen bietet, die gerade dorthin flüchten wollen.

Über dieses Setting der Verzweiflung hinaus gelingt Anna Seghers in Transit, die Frage der Flucht vor einem politisch nicht nur missliebigen, sondern lebensgefährlichen System in Bezug auf das einzelne Individuum zu generalisieren. Es ist sicherlich eine bedeutsame Metapher, dass die in der Handlung, die scheinbar Erfolg haben und Marseille auf einem Schiff verlassen können, nicht in einem Zustand der Erlösung enden. Den Ich-Erzähler, übrigens ein Mann mit einer eher verschwommenen Identität, umgibt eine Aura des Beobachters von höherer Warte, weil er die Jagd auf die Schiffspassage zunächst nur als ein Spiel begreift, das ihm nichts bedeutet. Deshalb kann er die Charaktere der Handlung emotional so maßvoll beschreiben: ihre Verzweiflung, ihre Psychosen, ihre Illusionen, ihr Kalkül. Und deshalb sieht er auf der anderen Seite, der Bürokratie, auch ihre Vielfalt: das maschinelle Vorgehen, das Machtbewusstsein und die diskrete menschliche Wärme. Und letztendlich ist es er, der Erzähler, der die Lösung in einer anderen existenziellen Dimension als der Flucht sucht.

Anna Seghers Transit wurde 1941 geschrieben. Er ist brandaktuell!