So, als lebten wir in Wolkenkuckucksheim, erzählen unsere Nachrichten wie gewohnt die nationalen Befindlichkeiten bis ins kleinste Detail. Welchen Anzug Westerwelle in der Stuttgarter Oper trug, wie viele Kontrollen angebracht sind, um die Kontaminierung von Lebensmitteln zu entdecken, wie viel Steuern man dem Mittelstand erlassen kann, wenn die wirtschaftliche Entwicklung so weiter geht wie im Moment. Gleichzeitig sind in Weißrussland und in Ungarn deutliche Zeichen zu vernehmen, dass dort die Uhr erneut auf Bolschewisierung steht.
Gleichzeitig werden einzelne Nachrichten aus dem Norden Afrikas bekannt, die isoliert betrachtet zwar beunruhigend sind, in einer zusammenhängenden Berichterstattung jedoch deutlich machen würden, dass sich in ca. 2 ½ Flugstunden Entfernung vom Stuttgarter Bahnhof soziale Unruhen manifestieren, die zu einer Flutwelle eskalieren können, zumal sie internationale Allianzen mit sich ziehen könnten. Das Informationszeitalter, so könnte man folgern, macht satte Menschen nicht neugieriger, und dumme nicht gescheiter.
Die erste Meldung kam aus dem ägyptischen Alexandria und bezog sich auf einen Anschlag muslimischer Extremisten auf die Kirche koptischer Christen. Die Regierung dementierte interne Konflikte und wies auf ein internationales Netzwerk. Dann rumorte es in Algerien, wo es zu Ausschreitungen kam, als die Regierung die Preise für Zucker, Mehl, Öl und Milch hinaufsetzte. Die an Staatsdevisen reichste Regierung des Maghreb zuckte verwundert mit den Achseln. Und dann wurde in insgesamt 15 größeren Städten Tunesiens der Aufstand geprobt, weil die seit Jahrzehnten herrschenden Familien immer dreister und korrupter wurden. Letzteres schaffte es nicht einmal mehr in unsere Nachrichtenportale. In Marokko ist es noch ruhig, aber man muss kein Prophet sein, dass es dort einen Überfremdungsimpuls gegen die vor allem in Marrakesch wütenden Dekadenzeliten aus Europa und natürlich die damit verbundene Politik des Königs geben wird.
Es handelt sich bei den Auseinandersetzungen um erste Warnzeichen für ökonomische Spannungen, die auf der südlichen Seite des Mittelmeeres sich ins Unerträgliche zu steigern drohen. Die ägyptischen Kopten sind zumeist griechischer Herkunft und eine überaus erfolgreiche und solvente Händlerkaste, die zunehmend nach Europa orientiert ist und einer die große Mehrheit pauperisierenden Volkswirtschaft der Muslime den Rücken kehrt. In Tunesien sind es vor allem die kommunalen Gemeinwesen, die ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können, weil die Korruption zu weit fortgeschritten ist. Und in Algerien ist die muslimische Regierungselite zu sehr unbeeindruckt von dem kabilischen Hinterland, das seinerseits in der Lage ist, eine anti-islamische Guerilla zu installieren, die gegen die Zentralregierung in Algier vorgehen könnte.
Vor allem in Ägypten und in Algerien verbergen sich hinter den Konfliktparteien geostrategische Interessen, die mit den christlichen und islamischen Kulturkreisen kongruent sind und die Angelegenheit zu einem Pulverfass machen. Der Norden Afrikas ist dabei, globale Entwicklungslinien direkt an den Rand Europas zu bringen.
