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Auf dass der Wahnsinn ein Ende nehme!

Irgendwann sind alle Geschichten erzählt. Alle, die etwas zu sagen haben oder die glauben, etwas sagen zu müssen, haben ihre Sichtweise dargelegt. Das Für und Wider eines Ereignisses, das alle bewegt, liegt auf dem Tisch. Und es scheint so, als hätten die unterschiedlichen Erklärungen zu nichts geführt. Diejenigen, die die Dinge in Bewegung halten, haben entweder nicht zugehört oder es ihnen schlichtweg egal, was da an Motiven herausgearbeitet wird, was zum Verständnis beitragen soll oder was dazu geeignet sein soll, die Dinge zum Besseren zu wenden. Und warum tun sie das? Weil sie es können. Sie haben die Macht, ihre Interessen durchzusetzen. Und sie werden es weiter tun, bis irgend etwas, das dazu in der Lage ist, sie aufhält.

Das kann vieles sein. Es kann die eigene Erschöpfung sein, es kann eine Rebellion im eigenen Haus oder in dem des Nachbarn sein. Es kann technisches Versagen sein oder eine Katastrophe,  die Versicherungen mit dem Terminus der „Höheren Gewalt“ beschreiben.  Dass so etwas passieren kann, scheint immer wieder einmal auf. Auch in unseren Tagen. Aber es muss so gewaltig sein, dass es der Macht der Handelnden Grenzen setzt.

Die große Enttäuschung, von der viele Menschen heimgesucht werden, liegt in der rigorosen Zerstörung von Illusionen begründet. Der Glaube, dass sich die Welt zu einer besseren bewegt genauso wie die Vorstellung, die Handelnden seien in der Lage, aus der Geschichte zu lernen.  Beides hat sich brutal und unwiderruflich als Fata Morgana herausgestellt. Nicht die Vernunft, nicht der Wille eines Gottes und nicht eine wie auch immer geartete Zivilisation hat die Welt zum Besseren gehoben. Das Streben nach Macht und das Handeln durch Macht scheinen ein eisernes Gesetz zu sein, das seit Beginn der Geschichtsschreibung Bestand hat. Und trotz der vielen Schulstunden, in denen den nachkommenden Generationen die letzten großen Katastrophen politischen Handelns näher gebracht wurden, haben dazu geführt, dass nicht von allen Seiten genau das getan wurde, was man besser vermieden hätte. Und alle gaben ihre Zustimmung, und immer in dem Glauben, das Richtige zu tun.

Machen wir uns nichts vor. Es wird auch in Zukunft so bleiben, dass die Interessen der Mächtigen den Takt vorgeben. Dass sie das so lange machen und machen können, wie es keinen Widerstand gibt, der seinerseits mächtig ist. Dieser kann dem Schicksal entspringen oder aus bewusstem politischen Handeln. Nur aus irgendwelchen Schriftstücken und Lehrsätzen, die den Sternstunden der Zivilisation zu verdanken sind, werden sie nicht kommen. Und diejenigen, die sich permanent auf diese „Werte“ berufen und selbst dem Lauf der Macht folgen, werden mit Sicherheit nicht die Katastrophen dieser Welt beenden. Sie werde sie noch beflügeln. Auch das wäre eine Lektion aus der Geschichte. Und die aktuellen Ereignisse zeigen, dass die Handelnden von dieser Lehre weit entfernt sind.

Alle haben ihre Geschichte erzählt. Es ist müßig, sich darauf zu fokussieren. Nichts wurde dadurch bewirkt. Was bleibt, ist das Warten. Auf Sand im Getriebe, auf eine unlogische, empörende Handlung hier, auf einen kleinen Defekt dort, auf eine kollektive Weigerung, eine Naturkatastrophe, auf Wahlen oder einen Aufstand. Irgend etwas wird dazu führen, dass der Wahnsinn ein Ende nehme. Vorerst.   

Das Lied des Falken

John Bolton. The Room Where It Happened. A White House Memoir

John Bolton ist kein unbeschriebenes Blatt. Der Mann war in Sachen Sicherheit bereits für die Präsidenten Bush senior wie Bush junior unterwegs, er war Botschafter der USA bei den Vereinten Nationen und, zuletzt, Nationaler Sicherheitsberater von Präsident Trump. Neben seiner politischen Karriere hatte er eine florierende Anwaltskanzlei in Washington und er war als Publizist und Kommentator tätig, auch und vor allem bei dem stramm konservativen Nachrichtensender Fox News. Boltons Engagement bei Donald Trump dauerte gerade einmal eineinhalb Jahre. Seinem Namen als Falke machte er auch dort alle Ehre. Kaum ein amerikanischer Politiker weist eine derartige Stringenz auf. Aus dem knappen Zeitraum, dem er nach eigenen Angaben selbst ein Ende setzte, erwuchs nun ein Buch von 500 Seiten. Es ist eine akribische Berichterstattung über die eigenen Aktivitäten unter und mit Präsident Trump. The Room Where It Happened. A White House Memoir. 

Sollte man sich die Mühe machen, fünfhundert Seiten zu lesen, aus der Feder eines Falken? Die Antwort ist eindeutig Ja! Es lohnt sich, wie sich kaum ein Buch der letzten Jahre gelohnt hat. Und dafür gibt es gleich mehrere Gründe. Zum einen wird die Leserschaft Zeuge über die Organisation und die Personalpolitik im Hause Trump. Zum anderen wird sehr deutlich, nach welchen Interessen und Maßstäben die Politik der USA betrieben wird. Da geht es immer, wiederholt immer, um Macht, um Ressourcen, um Geostrategie. Bolten schreibt darüber in der Kühle und Klarheit eines Menschen, wie er nach dem Fürsten Machiavellis modelliert sein könnte. Und zu diesen Informationen kommt noch eine besondere Note die Beschreibung des Individuums Trump, mit seinen Neigungen, Orientierungen und erratisch erscheinenden Entscheidungen.

Die Organisation des Weißen Hauses geht anders vonstatten als bei allen vorherigen Präsidenten. Das, was man als einen tradierten Wechsel innerhalb gesetzter Organisationen beschreiben kann, wurde außer Kraft gesetzt durch ein Beziehungsgeflecht, das den volatilen Launen des Präsidenten entsprechend immer wieder neu geformt wird. Ergebnis: Chronische Instabilität und die wachsende Neigung zu Hofintrigen.

Die ausführliche Schilderung der US-Politik gegenüber China, Russland, Syrien, Iran und Nord-Korea belegt die These von der Exklusivität des machtpolitischen geostrategischen Primats. In diesem Lichte erscheinen die misslungenen Deutungsversuche einer bis zur Unkenntlichkeit geschredderten Presse als das, was sie sind: das Ende eines kritischen, investigativen Journalismus. Da sind die Zeilen des Falken nahezu eine Erholung. Im Falle Venezuelas, eher einem Randgebiet seiner Schilderungen, wird das alles jedoch wie bei einer schönen Klavieretüde deutlich. Da wurden Kandidaten für den Regime Change gekürt, da wird darüber spekuliert, ob der amtierende, gewählte Präsident ermordet oder außer Landes geschafft werden soll und da wird das Regiebuch für den Putsch geschrieben. Und natürlich, da geht es um Öl und die unerwünschte Präsenz von Russen und Chinesen vor der Haustür. 

Donald Trump, der in der hiesigen Berichterstattung zu einer grotesken Satirefigur verkommen ist, wird differenziert betrachtet. Seine Fähigkeit, die geostrategische, machtpolitische Relevanz schnell zu erfassen korrespondiert mit dem Willen, Beschlüsse zu fassen und schnell umzusetzen.  Die besondere Note des Stils von Trump zeichnet sich dadurch aus, dass er alles im Lichte von Deals sieht, die geschlossen werden sollen und die sich messen lassen, vor allem monetär. Und Trump hat eine klare Agenda: er will alles, was er vor der Wahl versprochen hat, auch umsetzen, wie zum Beispiel den Abzug der Truppen aus Syrien und Afghanistan zeigen. Daraus abgeleitet sind die auch für den Betrachter Bolton merkwürdigen persönlichen Beziehungen, die Trump zu denen entwickelt, mit denen er Deals machen will. Da will er ein aus seiner Sicht bestehendes Vertrauen nicht zerstören, auch wenn es sich um Diktatoren handelt.

Boltons Buch ist das Lied eines Falken. Hören Sie zu!

Zur Delegation von Macht und Schuld

Die Aussage, dass der Prozess der Vereinigung ein langer ist, wie von der Kanzlerin anlässlich des 3. Oktobers formuliert, ist so richtig wie trivial. Die Feststellung allein führt nicht weiter. Vieles, was zu der Identitätskrise der Gesellschaft beigetragen hat, begann mit dem Jahr 1990. Einiges davon liegt in der Vergangenheit. Manches in der vor der Vereinigung, vieles in der Zeit danach. Es ist Zeit, sich darüber Klarheit zu verschaffen und sich einer Programmatik zu verschreiben, die konkrete praktische Folgen hat.

Ein Themenblock, der bis heute Wirkungsmacht versprüht, der allerdings dem Tabu unterliegt, ist die doppelte Ausblendung der Vergangenheit in Deutschland Ost. Zum einen wurde bereits bei der Teilung dort die Frage nach der Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg ausgeblendet. Die Mit-Verantwortung auch im Osten Deutschlands wurde von der offiziellen Doktrin schlichtweg negiert. Das historische Debakel der Diktatur wurde exklusiv als Angelegenheit des Westens deklariert und wurde dort im Zusammenhang mit den Jugendprotesten der späten 60iger Jahre ausgetragen. Die Wurzeln der Diktatur, die im Osten ebenso im kollektiven Bewusstsein schlummerte, wurde verdrängt.

Analog verlief es beim Prozess der Vereinigung. Auch jetzt regierte die Devise, dass die Blaupause für Entmündigung und Diktatur in Moskau und nicht in den Verhaltensweisen zu finden war, die in Frankfurt an der Oder oder in Jena zu finden waren. Chance negiert, Chance vertan. Was sich damit zu einer kollektiven Tradition etablierte, war die Schuldzuweisung nach außen und die Exkulpierung des Inneren.

Nun war der Westen zum Paradigma aller geworden. Von denen im Westen durchaus kritisch gesehen und praktiziert, von denen im Osten mit Hoffnung begrüßt und zum Schluss mit Enttäuschung quittiert. Jetzt zahlte sich das Defizit an Eigenverantwortung aus und schlug seinerseits Wurzeln.

Was in beiden Teilen des Landes seitdem grassiert, ist die Suche nach Verantwortlichen für Fehlentwicklungen. Dass diese hausgemacht sind und nicht bei den berühmten externen Sündenböcken zu finden ist, führt zu einer weiteren Frustration. Denn tief im Innern schlummert bereits die Erkenntnis, dass das, was die Zuversicht in beiden Teilen Deutschlands zerstört, im eigenen Land zu finden ist und nicht mit der Liquidierung dieses oder jenes Unglücksraben zu beseitigen ist.

Vor diesem Land steht harte Arbeit. Sie muss sich konzentrieren auf die Enthüllung der Mechanismen, die zu sozialer Spaltung führen, sie muss sich auseinandersetzen mit dem Spiel der Macht, das viele abstößt und sie muss sich auseinandersetzen mit der Konstruktion von Tabus, die dann aktiviert werden, wenn es darum geht, die Interessen derer freizulegen, die Ursache für manche Misere sind.

Was jetzt zählt, sind praktische Konsequenzen. Was jetzt zählt ist konkrete Aktion. Dort, wo das Misstrauen groß ist, muss selbst gehandelt werden. Und das ist nicht im Berliner Reichstag, sondern überall da, wo gearbeitet, gelernt und gelebt wird. Jede Alltagsroutine zählt. Dort, wo entmündigt wird, muss die Auseinandersetzung gesucht werden und dort, wo Entscheidungen gefällt werden, die ausgrenzen, die manipulieren und die das Verhältnis von Richtig und Falsch auf den Kopf stellen, müssen diese revidiert werden. Das muss vor Ort ausgefochten werden. Das verlangt Courage, Energie und es verlangt auch Verluste. 

Die Zeit der Delegation, von Macht wie von Schuld, muss ein Ende haben. Die Verantwortung dafür tragen alle. Es steht viel auf dem Spiel.