Schlagwort-Archive: Maaßen

Eine pathologische Fehlinterpretation

Als ich las, dass im Falle Maaßen ein Weg gefunden worden sei, der die Wahrung des Gesichtes aller Beteiligten ermöglichte, musste ich, wie immer, wenn die Formulierung hierzulande benutzt wird, an die Verhältnisse in Indonesien denken. Dort, vor allem auf der Insel Java, dem kulturellen Zentrum des riesigen Inselstaates, spielt das Kehilangan Muka, das Verschwinden-Machen des Gesichtes, eine zentrale Rolle. Und Verlust oder Wahrung des Gesichtes sind Synonyme für die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft oder den sozialen Tod.

Gerade dort, in Asien, wo doch aus der alles erklärenden Sicht des Westens die Gemeinschaft alles, und das Individuum nichts bestimmt, geht es nicht ganz so zu, wie vermutet. Die Gemeinschaft und das Kollektiv spielen selbstredend eine größere Rolle als das Individuum, aber ohne die Arbeit und die Leistung der Individuen kann aus dem Kollektiv nichts werden.

Das Gesicht ist die Fassade und der Fokus, mit der und in dem das Individuum vor die Gemeinschaft tritt. Dieses Gesicht ist die Referenz, die das einzelne Individuum vorweisen kann und muss, um als Glied des Ganzen akzeptiert zu werden. In einem Punkt liegen die Vorstellungen, die im Westen gehegt werden, richtig. Gesichtslose finden keinen Eingang mehr in das Kollektiv. Und eine Existenz ohne das Kollektiv ist gleichbedeutend mit dem sozialen Tod. Nichts wird in diesem Teil der Welt mehr gefürchtet, als der Verlust des Gesichtes.

Die Entscheidung, ob ein Individuum sein Gesicht verliert, liegt nicht bei einzelnen Individuen, sondern beim Kollektiv. Wer die Regeln des Kollektivs verletzt und ruiniert, der bekommt es mit dem Kollektiv zu tun. Regeln und Sinn machen den gesellschaftlichen Konsens aus, nach dem gehandelt wird. Dort, in Südostasien, sind es vor allem Werte wie Harmonie, nach denen das Kollektiv strebt. Und so widersprüchlich es sich auch anhören mag: Wer die Harmonie des Kollektivs zerstört, der bekommt eine alles andere als Harmonie fördernde Reaktion seitens des Kollektivs zu spüren. Das kann dazu führen, dass gestörte Harmonie tatsächlich zum Tod führt. Ja, keine Metapher, ja, schlicht und physisch.

So profan das in diesem Kontext auch klingen mag. Von den Überlegungen des Kehilangan Muka hin zu der Beförderung des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten  Maaßen ist es ein nur sehr kurzer Weg. Und obwohl wir hier nicht in Asien leben, so soll die Metapher dennoch diskutiert werden.

Die Lösung des Falles Maaßen ist eine system-immanente und sie verkörpert etwas, was in diesen Tagen gerne als eine Win-Win-Situation bezeichnet wird. Maaßen ist aus seinem Amt entfernt und seine Kritiker bekommen Recht, Maaßen wir befördert und sein Vorgesetzter  bekommt Recht, Maaßen behält Zugriff auf den Apparat und die AFD bekommt Recht und Maaßen wurde bewegt und die Kanzlerin bleibt im Amt.

Das hört sich alles sehr gut an, jedoch nur system-immanent, also dort, wo die Rochade stattfand. Dieses Milieu gleichzusetzen mit dem entscheidenden Kollektiv wäre jedoch eine pathologische Fehlinterpretation. So etwas unterläuft Menschen, die den Bezug zum allgemein vorherrschenden Leben verloren haben. Das Gesicht verloren haben diejenigen, die sich diese Lösung ausgedacht haben. Da gibt es nichts mehr zu vermitteln. Da hat die Existenz des Kollektivs nichts mehr mit der Existenz der handelnden Individuen gemein. Das führt in Asien zum Bruch. Das führt in Europa zur Revolution.