Schlagwort-Archive: Löw

EM: Blütezeit des Positivismus

Auch wenn diese EM für viele Beobachterinnen und Beobachter eine Enttäuschung zu sein scheint, so ist der Erkenntniswert, der von ihr ausgeht, extrem groß. Das aufmerksame Publikum konnte jenseits des Ballspiels sehen, wie sich vor allem britische und russische Hooligans in einem fremden Land aufgeführt haben. Das war gleichermaßen entsetzlich. Interpretiert und verurteil wurde es von offizieller Seite jedoch unterschiedlich und schon waren wir auf einer Plattform, die gut mit dem Terminus Double Standards bezeichnet werden kann. Ziehen wir doch einfach einmal einen logischen Schluss und erkennen, dass die Verrohungspotenziale in der britischen wie in der russischen Gesellschaft äquivalent sind. Und damit es richtig weh tut, seien die isländischen wie walisischen Fans betrachtet, die trotz der gewaltigen UEFA-Geld- und Propagandamaschine gezeigt haben, was Freude am Spiel an sich an positiven Schwingungen produzieren kann.

Aber die letztgenannten Resonanzen sind Nischenphänomene in einem Spektakel, das zu einem regelrechten Überlebenstest für die hoch bezahlten und hoch dekorierten Profis geworden ist. 70-Spiele-Plus ist das Pensum, welches die High Professionals in der zurückliegenden Saison hinter sich gebracht haben. Da ist es kein Wunder, wenn mehr über Achillessehnen, Patella, Muskelfaserriss, Muskelabriss, ramponierte Waden etc. gesprochen wird als über geglückte Fallrückzieher. Das Turnier, noch einmal wegen der Einnahme- und Vermarktungsmöglichkeiten aufgeblasen, ist zu einem regelrechten Humanmaterialtest geworden. Wer jetzt argumentiert, so sähe man auch Nationen wie Island oder Wales, der sollte sich die ungleichen Wettkampfbedingungen vor Augen führen, nämlich ausgelaugte, angeschlagene Profis gegen euphorisierte Amateure, denen die dampfende Wurst vor der Nase hängt, Geschichte schreiben zu können. So werden Illusionen erzeugt, die keiner Überprüfung standhalten.

Nein, die EM hat keine Neuigkeiten in fußballerischer Hinsicht parat. Es sei denn, man betrachtet die Systemvariabilität während eines laufenden Spieles als neuen, sich durchsetzenden Standard. Das ist hoch komplex und wird von vielen Enthusiasten nicht einmal verstanden, aber es ist ein wichtiger Hinweis, der dokumentiert, dass der Fußball wie immer mit den Produktions- und Arbeitsbedingungen korreliert. Natürlich geht es um Erfolg, und natürlich geht es um Geld. Den Fußball an sich gab es noch nie, seine Unschuld hatte bereits noch hinter den Halden der Kohlebergwerke verloren. Aber genau deshalb ist er so relevant, weil er sich zu einem Spiegelfeld der sich entwickelnden, realen gesellschaftlichen Verhältnisse hat etablieren können. Nirgendwo sonst ist die gesellschaftliche Relevanz so präsent wie bei ihm.

Das beste Beispiel für diese These ist die jüngste Auseinandersetzung zwischen dem EX-Profi und Fernsehkommentator Mehmet Scholl und dem DFB. Letzterer hatte Chef-Trainer Löw vorgeworfen, sich zu sehr von den Tablet-Taktikern beeinflussen zu lassen. Er meinte damit die Einheit um den Schweizer Urs Siegenthaler, der IT-gestützt sämtliche Spieldaten der Gegner auswertet und anhand der empirischen Daten Taktikempfehlungen formuliert. Eine solche Empfehlung hatte zu der umstrittenen Dreierkette gegen Italien geführt. Die Art und Weise, wie Löw und Siegenthaler auf diese Kritik reagiert haben, hat deutlich gemacht, dass beide radikale Vertreter eines Positivismus sind. Siegenthalers Replik, vor tausend Jahren hätten auch viele Zeitgenossen geglaubt, die Erde sei eine Scheibe, verhilft dem scheinbaren Streit über eine fußballerische Taktik gar zur Dimension eines Paradigmenstreits. Was im Arbeitsleben immer wieder versucht wird, die totale Steuerung der Menschen durch Maschinenlogik, ist jetzt auch im Fußball angekommen. Das ist ein heißes, ein brandheißes Thema. Es geht darum, ob das menschliche Sein zu einer Randerscheinung mit Relevanz zum Irrtum degradiert wird oder ob es das Zentrum der Kreativität bleibt. Fast zu viel, für eine lapidare Sportart, oder?

The Eagle flies on Sunday

In der Branche heißt es, alles was zählt, sind Titel. Das stimmt nur bedingt, ist aber auch nicht falsch. Titel haben die Aura, dass sie in die Annalen eingehen. Deutschland ist zum vierten Mal Fußballweltmeister. Chapeau! Das ist für die Annalen, daran wird sich nichts ändern. Was von den Spielen allerdings übrig bleibt, wenn nach zehn oder zwanzig Jahren darüber berichtet wird, das sind nur bestimmte Szenen. Die prägen das kollektive Gedächtnis. 1954 war es der Schuss von Helmut Rahn und der Radiokommentator, der diesen begleitete, 1974 war es der Elfmeter von Paul Breitner und das Siegtor von Gerd Müller, 1990 der Elfer von Andreas Brehme und die Tränen des Weltfußballers Maradona, und heute? Im berüchtigten Maracana, unterhalb des Corcovado in Rio de Janeiro, da war es natürlich das alles entscheidende Tor von Mario Götze.

Was aber mehr beeindruckte als dieses wunderbar herausgespielte und von Götze grandios vollendete Tor waren zwei weitere Ereignisse, über die zumindest die, die es erlebt haben, ewig sprechen werden. Es war der wohl letzte Einsatz von Miroslav Klose, der rackerte wie ein Tier, der gefährlich blieb bis zum Schluss und der mit seinen 36 Jahren noch einmal die Welt beeindruckte. Der polnische Immigrant, der in der Pfalz in der Regionalliga begann und heute noch die Fans im fernen Rom verzaubert, holte sich in seinem letzten Spiel noch den WM-Titel. Ein großartiger Sportler hat die große Bühne für immer verlassen und als er ausgewechselt wurde, bekam er stehenden Applaus. Der beste WM-Schütze aller Zeiten verließ das Feld.

Und da war noch Bastian Scheinsteiger, der, wie manche andere wusste, dass es wahrscheinlich auch seine letzte WM sein würde, legte sein ganzes Leben in dieses Spiel. Als die argentinische Mannschaft entschied, ihn durch böse Fouls aus dem Spiel zu nehmen, agierte er wie ein Boxer aus dem Ghetto. Er wusste, wenn nicht heute, dann nie. Immer wieder stand er auf, vom Schmerz gezeichnet, zuletzt mit einer klaffenden Wunde im Gesicht deutete er an, dass er diesen Kampf nicht verlieren würde. Er hat ihn gewonnen und gezeigt, wie so etwas geht. Das wird hängen bleiben, das hat das Zeug zur Legende.

Über den Teamgeist, über die wissenschaftliche Unterstützung, über das große Kontingent der Spitzenfußballer, auf die Löw aufgrund einer im letzten Jahrzehnt statt gefundenen Aufbauarbeit zurückgreifen konnte, auf all das wurde zu Recht verwiesen. Was zudem gegen einen Gegner wie Argentinien fehlte, war eine Leistungsbereitschaft, die über die Grenze ging. Sie war da, und der Titel ist die verdiente Ernte.

Wir wären keine Deutschen, wenn wir nicht noch das Mittel der Kritik suchen würden. Das werden wir tun. Es gibt viel zu sagen über die FIFA und die Medien, über Korruption und Ressentiment. Und es wird eine Stimmung aufkommen, die auf diesen Titel verweisen und die Notwendigkeit der Veränderung leugnen wird. Doch das wird Morgen sein. Noch fahren die vielen Fans durch die Straßen und von überall aus der Welt treffen Glückwünsche ein. Ein Freund schrieb mir gerade aus Los Angeles und frühere Kollegen aus Jakarta feiern, weil Deutschland Fußballweltmeister ist. So etwas sollten wir genießen. Es ist ein schöner Moment. Der Weg war schwer, der Gegner im Finale großartig und die Mannschaft hat den Titel verdient. Zollen wir ihnen Respekt, genauso wie dem vom Fußball besessenen Land Brasilien. Das Licht geht jetzt aus. Morgen ist ein langer, arbeitsreicher Tag. Wir sind hier in Deutschland!

Das Massaker von Belo Horizonte

Es ist nach wie vor ein Spiel. Bei allem, was die letzte Nacht an Sprachlosigkeit bei einem Millionenpublikum gezeitigt hat, sollte das nicht aus den Augen geraten. Das Charakteristikum eines Spieles besteht unter anderem darin, dass das Unvorhergesehene zuweilen einen größeren Stellenwert einnimmt als vormals rational angenommen. Vor diesem merkwürdigen und atemberaubenden Spiel zwischen Brasilien und Deutschland konnte davon ausgegangen werden, dass alles möglich sein würde, sowohl ein Sieg Brasiliens als auch ein Weiterkommen der Deutschen. Was dann passierte, hatte sehr viel mit Psychologie und ihrer manchmal ungeheuren Eigendynamik zu tun. Das, was man vielleicht als Massaker von Belo Horizonte bezeichnen muss, war eine historisch zu nennende Dokumentation dieser Eigendynamik.

Das deutsche Team unter Trainer Löw wartete mit dem auf, wofür die deutsche Mentalität in der Regel steht. Man kam, nach dem Sieg über Frankreich, mit einem analogen Konzept und einer identischen Mannschaft nach Belo Horizonte und besann sich auf die eigenen Kernkompetenzen. Taktisch gab es keine Überraschungen und die Devise, die im Vorfeld ausgegeben wurde, hieß immer wieder Konzentration und Fokussierung. Man traf dabei auf einen seit Anfang des Turniers emotional aufgeladenen Gegner Brasilien, der den bisherigen Weg ins Halbfinale ausschließlich aus der Ressource des Engagements, des Herzbluts und der Symbolik gespeist hatte. Dieses Arrangement wurde noch gesteigert durch das Ausscheiden des Superstars Neymar, dessen Verlust abermals mit einem neuen Kontingent aus dem Gefühlsleben gespeist werden sollte.

Ab der ersten Sekunde wurde deutlich, dass Brasilien mit einem emotionalen Sturmlauf den Gegner überrollen wollte. Die ersten fünf Minuten lieferten die Blaupause der brasilianischen Taktik, die keine war. Als dieses Mittel dahin gehend nicht zu greifen schien, als dass die deutschen Spieler nicht die Nerven verloren, sondern diese wie eine Präzisionsmaschine ihre eingespielten Routinen etablieren konnten, wurde klar, dass Brasiliens Konzept nicht aufgehen konnte. Der psychische Druck, der auf den brasilianischen Spielern mehr denn je lastete, steigerte sich ins Unermessliche und führte dazu, dass der Abwehr Fehler unterliefen, die diesem Mannschaftsteil der Brasilianer unter normalen Umständen nie unterlaufen würden. Nach dem ersten Tor der Deutschen geriet die Equipe der aufstrebenden 200 Millionen Nation ins Wanken, nach dem zweiten Treffer der Deutschen implodierte sie. Was danach geschah ist bereits wenige Stunden nach dem Triumph der Deutschen und dem Debakel der Brasilianer WM-Geschichte.

Das 7:1 des deutschen Teams vermittelt das Bild einer lockeren Jagdpartie, die ohne Wollen der Beteiligten zum Massaker geriet. Nach dem ersten Schuss fielen gleich mehrere Vögel vom Himmel und die ungläubigen Jäger probierten es wieder und wieder, um sich die Augen zu reiben ob der unvorhergesehenen reichen und leichten Beute. Ohne bösen Willen kehrte die Jagdgesellschaft mit mit üppiger Beute beladen ins Quartier zurück und hinterließ einen emotionalen Flurschaden auf brasilianischer Seite, der sich zu einem nationalen Trauma ausweiten wird. Eine große Fußballnationen liegt in Tränen und es ist sehr wahrscheinlich, dass die ausgebliebene symbolische Hoffnung, die ein WM-Titel mit sich gebracht hätte, zu einem knarzigen, an Verwerfungen reichen Alltag führen wird, der für die weitere politische Entwicklung des Landes eine große Hypothek darstellen wird.

Bundestrainer Löw, der nicht nur die richtige Taktik gewählt hatte, fand in diesem Kontext gar goldene Worte. Er sprach davon, dass in einer solchen Situation auch Demut angebracht sei. Das ist weise, da es vor Hochmut bewahrt und vor Selbstüberschätzung warnt. Am Morgen danach geht in Deutschland das Leben weiter, bereichert mit einer prominenten Anekdote. Brasilien hingegen liegt vorerst am Boden. Ein Spiel, das ins Leben wirkt.