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Opfer der Halbwertzeit

Fortschritt ist eine heikle Sache. Nicht nur, dass ihm Vieles, was bewährt erscheint, zum Opfer wird. Nein, auch die Menschen, die mit ihm konfrontiert sind, zerfallen in verschiedene Lager. Zum einen in diejenigen, die ihn aufhalten wollen und zum anderen in jene, die ihm zum Erfolg verhelfen wollen. Das Absurde dabei ist, dass weder das Eine noch das Andere eintritt. Wenn sich etwas ankündigt, ist es da, aber nie in der Reinkultur, in der sich die Idee präsentiert. Je weiter man in der kurzen Geschichte der Menschheit zurückgeht, desto gelassener scheinen die jeweiligen Generationen mit der Frage des Fortschritts umgegangen zu sein. Nicht, dass nicht auch schon in der Antike die Köpfe rollten. Wo neue Ideen aufkommen, da brennt es oft lichterloh und manches Gefühl dominiert dann doch das kalte Räsonnement. Aber, trotz der Tageshitze, irgendwie reflektierten diejenigen, die von uns aus gesehen in weiter Vorzeit lebten, einen immer wiederkehrenden Zyklus an Bestand und Ruin, der sie davon abhielt, hektisch zu werden. Auch nicht, wenn der Fortschritt direkt an die Tür klopfte.

Verglichen mit heute sieht das alles sehr verlangsamt aus, was aber Vorteile hat, was wir alle wissen, seitdem wir uns mit den Vorzügen der Langsamkeit und den Nachteilen des Tempos beschäftigen. Nicht nur gefühlt, sondern auch messbar werden unser Leben und die in unserem Leben stattfindenden Entscheidungen immer hektischer. Es hat nichts mit einer genetischen Entwicklung des Menschen zu tun, sondern mit den Lebensumständen, die er selbst schuf und die ihn nun zu tyrannisieren suchen. Die Dominanz der Naturwissenschaften hat dazu geführt, dass die humane Reflexion an den Rand gedrängt wurde.

 Der Terminus überhaupt, der verantwortlich zeichnet für die Beschleunigung der Lebenswelten ist der der Halbwertzeit. Alles, womit wir mittlerweile in unserem Routinealltag operieren, unterliegt dem Trend der Verkürzung der Halbwertzeit. Jede Erfindung, jede Neuerung und somit jeder Fortschritt basiert auf einer Innovation, deren Wertbestand immer kürzer wird. So ist es keine Seltenheit, wenn eine neue Maschine, ein neues Verfahren oder eine neue Methode schon den Death Letter bekommt, bevor es überhaupt zu Ende gedacht, eingeführt und etabliert wurde. Die betroffenen Menschen macht das nicht nur zunehmend verrückt, sondern es führt sie immer wieder zu der nicht unberechtigten Frage, ob diejenigen, die darüber entscheiden, ob es Fortschritt gibt oder nicht, überhaupt wissen, was sie wollen. Die Antwort kann nur lauten: Meistens Ja und meistens Nein!

Das logische Dilemma, in dem sich eine Zivilisation befindet, die auf den Fortschritt setzt, resultiert aus der Aufgabe der absoluten Dominanz menschlicher und institutioneller Entscheidungen. Nur wenn es Menschen sind, die erstens legitimiert sind und zweitens von dem Zweck getragen werden, ob es nützlich ist und die Gesellschaft weiterbringt, was da eingeführt wird, wird die Eigendynamik der rein technischen Revolution eingedämmt. Die Verselbständigung der technischen Prozesse macht aus den menschlichen Subjekten Gejagte, die mit der Beschleunigung von Wissenschaft und Technik immer fremdbestimmter werden, ohne auch noch die Zeit und Muße dafür zu haben, zu überdenken, ob dieser Trend überhaupt das ist, was sie wollen. Es genügt das Signum des Fortschritts, um sich eine scheinbare Legitimation für das Zeitgemäße zu holen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wer keine Zeit mehr hat zu reflektieren, was er will und was er nicht will, der lebt in grauer Vorzeit.