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Die Beobachtung der Oberfläche in Erwartung des Fisches

Es gibt einen Schnitt in der Wahrnehmung. Hirnforscher sind davon überzeugt, dass spätestens seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts etwas mit der Reaktionsgeschwindigkeit des Gehirns geschehen ist. Alle, die vorher geboren wurden, sind aufgrund ihrer Perzeption in der Lage, das, was seit dem 19. Jahrhundert als Epik in der Literatur Eingang fand, in der entsprechenden Form zu verarbeiten. Diese Fähigkeit setzt voraus, dass das zugrunde liegende Bild des Menschen und der ihn ereilenden oder der von ihm inszenierten Geschehnisse ein langsames, vom Unterbewusstsein gesteuertes Tempo aufweist. Die Beobachtung dieser schleichenden Prozesse ist das eigentliche Medium dieser Epik. Die Erzählweise ist sanft, fühlend, und sie nimmt sich die Zeit, die sie braucht. Für die Generationen, die nach 1980 geboren sind, hat diese Epik etwas Langweiliges, Lebloses an sich. Das Tempo ist zu langsam und die Bobachtung des Unbewussten zu unspektakulär.

Eine literarische Stimme, die schon seit Jahrzehnten wie aus einem historischen Off ertönte, war die des Schriftstellers Siegfried Lenz. Breits den Nachkriegsgenerationen wurden seine frühen Werke durch didaktisch mäßig ausgebildete Lehrer aufgedrängt. Wer es schaffte, diese Werke später durch Verfilmungen noch einmal zu erleben und dann so rechtschaffen war, ihnen durch eine zweite Lektüre eine zweite Chance zu geben, erlebte dann sogar ihre Rehabilitation. Das Feuerschiff oder die Deutschstunde sind gute deutsche Literatur und es gehört zu dem Phänomen dieses speziellen Genres, dass sie dazu beitrug, nach Faschismus und Krieg dieses Land im Ausland kulturell zu rehabilitieren.

Nach Aussagen Siegfried Lenz´ konzipierte er seine Werke stets nach dem Modell, eine spezielle, menschliche Fragestellung auszuwählen, die er thematisieren wollte. Dann suchte er nach der geeigneten Geographie, dem sozio-kulturellen Milieu und den Figuren, die dazu passten. Es ist eine analytische, intellektuelle Herangehensweise, die eigentlich gar nicht zu der Tradition der Epik passt. Denn diese entstammt der mündlichen Erzähltradition und nicht der literarischen Konzeption. Dass Siegfried Lenz dennoch eine hohe epische Qualität gelang, weil er eine Sprache benutzte, die Figuren wie Landschaft entsprach und die das Unbewusste in der fortlaufenden Handlung der menschlichen Existenz erahnbar machte, dokumentiert die Klasse, in der sich dieser Mann bewegte. Er hatte als Schriftsteller den Gestus des Gewerbes nicht nötig. Seine Worte sprachen für Viele für sich.

Und obwohl Siegfried Lenz Universalthemen, die ja immer hoch politisch sind, in seinem Werk immer wieder thematisierte, wie die Verantwortung des Einzelnen, wie den Kampf des Individuums um sein Recht, wie die Bedrohung der Umwelt durch die Kräfte der Zivilisation, wie das Gebot des Widerstands und wie die Loyalität aus Liebe, Siegfried Lenz kam auch ohne den ostentativen Gestus des politisch denkenden und handelnden Menschen aus. Das Geheimnis seiner zeitgenössisch stets virulenten Aussagen ohne das Beiwerk des Showgeschäfts liegt tatsächlich in der genauen Beobachtung des Unbewussten als Faktor menschlichen Handelns. Darin war Siegfried Lenz ein Meister. Er folgte den Menschen mit Empathie, mit Akkuratesse und mit großer Zuneigung. Er kannte jede Regung der Menschen, über die er schrieb und er wusste, dass nichts, was sie taten, dem Zufall entsprang, sondern alles seine Vorgeschichte hatte. Wer ihm bis dahin folgte, dem erklärte sich auch vieles. Heute könnten ihm nicht mehr viele folgen. Die meisten wollten es nicht einmal, weil es ihnen zu langweilig wäre. No Action! Keine Zeit für feinsinnige Erklärer. Keine Zeit für die Dechiffrierung von Volkes Seele.

Gesellschaftsdiagnostik über Leseverhalten

Manch konservative Eltern sind mit der penetranten Frage in Erinnerung geblieben, aus welchen Verhältnissen ein neuer Freund oder eine neue Freundin denn stamme. Damit assoziiert kam dann immer die Weisheit, sage mir, mit wem du verkehrst, und ich sage dir, wer du bist! Das, was von vielen Heranwachsenden als statusbezogene Belästigung und Einschränkung der Freiheit der sozialen Assoziation angesehen wurde, würde heute, aus anderen Motiven versteht sich, Vertreterinnen und Vertreter der systemischen Theorie als eine ur-vernünftige Betrachtungsweise einstufen. Die Frage des Sozialstatus ausgeklammert, wäre das Studium der Psychogramme und Verhaltensmuster derer, mit denen ein Individuum verkehrt, hoch aufschlussreich im Hinblick auf die eigene Befindlichkeit, psychische und soziale Disposition. Insofern ist der oben zitierte Satz durchaus verifizierbar.

Eine andere Möglichkeit, sich Aufschluss über Menschen und Gesellschaften zu verschaffen, ist den Fokus auf das zu richten, was kulturell produziert und konsumiert wird. Dabei sollte der Fehler vermieden werden, lineare oder gar Spiegelschlüsse zu ziehen. Filme, die in einer Gesellschaft en vogue sind, müssen nicht die dortigen Verhältnisse abbilden, sie können auch den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass alles ganz anders wird. Das ist der Doppelcharakter, von dem Karl Marx in der Einleitung zur Hegelschen Rechtsphilosophie sprach, als er über die Religion räsonierte. Einerseits, so schrieb er, sei sie affirmativ, in dem sie auf den Himmel verweise, andererseits protestativ, weil ihre Idealbilder die Realität heftig negierten. So ist es, oder andererseits, so einfach, wie sich viele das gerne bei der Deutung der Phänomene auch machen, ist es eben nicht.

Literatur eignet sich, in dieser Betrachtung eine Rolle zu spielen. Justiert an den anfangs zitierten Satz, sei die provozierende These erlaubt, sage mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist. Und noch mehr, sage mir, was eine Gesellschaft liest, und ich sage dir, was sie ist. Gemäß dieser Arbeitshypothese leben wir im Sommer in goldenen Zeiten. Jetzt, während der Ferien, genügt ein kleiner Spaziergang am Strand oder eine Runde am Swimmingpool, um einen Eindruck von dem Spektrum dessen zu bekommen, was momentan gelesen wird. Findet dann auch eine Kategorisierung derer, die dort versammelt sind statt, nach Nation und sozialer Klasse, dann wird es eine hoch interessante Geschichte. Wir bekommen eine Blitzdiagnose über die Befindlichkeit verschiedener Gesellschaften, ohne einen großen wissenschaftlichen Aufwand betreiben zu müssen.

In diesem Sommer fällt auf, dass in den Mittelständen der Mittel- und westeuropäischen Länder die Lektüre politischer Bücher eher die Ausnahme darstellt. Wenn Politik ein Thema ist, dann findet es in den zunehmend banaler werdenden Magazinen statt. En vogue sind nach wie vor skandinavische Autoren, die mit einer zumeist großen Akribie über die Details von Verbrechen berichten, die im Dutzendplagiat vorliegende Einführung in den mittelständischen Sado-Masochismus und historische Romane, die die steinigen Wege der Erkenntnis romantisieren. Bei Amerikanern ist es etwas anderes, dort existiert seit einiger Zeit eine Sorte Literatur, die die Neudefinition der Identität zum Thema haben, während seit dem 11.September 2001 eine Thriller-Literatur in puncto Terror und Terrorbekämpfung den Markt überflutet, der das Ausmaß der wahren Traumatisierung nur ahnen lässt.

Die Sommerlektüre hierzulande lässt vermuten, dass sich der Mittelstand nach mehr Aufregung sehnt, sich aber nicht traut, eher satt und gelangweilt, aber ohne Courage ist, während die USA nach der Definition einer neuen Rolle lechzen und nach wie vor von Albträumen verfolgt werden, was die eigene Sicherheit betrifft. Erkenntnisse vom Strand.

Ein letzter enzyklopädischer Blick in die Zukunft

Eric Hobsbawm. Fractured Times. Culture And Society In The Twentieth Century

Mit ihm verabschiedete sich eine der letzten großen Figuren des universalen Gelehrtentums der okzidentalen Sphäre. Eric Hobsbawm, der 1917 im ägyptischen Alexandria mit britischem Pass geboren wurde, seine Kindheit und Jugend in Wien und Berlin verbrachte und dann nach London zog, um eine unbeschreibliche Produktivität als Historiker und Publizist zu entwickeln. Der Marxist, was er übrigens zeit seines Lebens blieb, hinterließ nicht nur drei epochale historische Studien, Europäische Revolutionen: 1789 – 1848, Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848 -1875 und Das imperiale Zeitalter 1875 -1914, sondern eben auch Werke über biographische Sonderlinge, kunsthistorische Fragestellungen und den Jazz. Kein Wunder, dass der zudem eloquente Hobsbawm ein gern gesehener Gast auf Festivals und Kongressen war. Nun, nach seinem Tod 2012, erschien sein wohl letztes Buch. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen, Vorlesungen und eben Workshopauftritten alässlich von Festivals zu sehr unterschiedlichen Themen. Unter dem Titel Fractured Times. Culture And Society In The Twentieth Century weht der Leserschaft noch einmal der Geist dieses außergewöhnlichen Intellektuellen entgegen.

In insgesamt vier Kapiteln geht es zunächst um die Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Künste mit sehr inspirierenden Prognosen über ihre Entwicklungspotenziale. Dabei besticht vor allem die Analyse der sozialen Daseinsformen für Musik, Literatur und bildende Künste einschließlich der Architektur. Die Bestandsaufnahme der Kultur der bürgerlichen Welt wiederum überzeugt durch das scharfe Auge im Hinblick auf die Kohäsion dieser Kultur. Immer wieder tauchen Aspekte auf, die verblüffen, z.B. Hobsbawms eigenwillige, aber durchaus plausible Erklärungen für die Identifikation der deutschen Juden mit der dieser Nation zugeschriebenen Kultur, die er als Identifikation mit den Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs in die bildungsbürgerliche Mittelklasse sieht. Das dritte Kapitel, mit Ungewissheiten, Wissenschaft und Religion überschrieben, befasst sich Hobsbawm gleich mit mehreren essenziellen Fragestellungen: Den Paradigmen der Zukunft (Chance oder Untergang), der Rolle der Intellektuellen, vor allem ihrer Rolle im Magnetfeld der Macht sowie der Künste im Prozess der sozialen Revolution. Und schließlich, im 4. Kapitel, entpuppt sich der immer wieder in ökonomischen Kategorien denkende Historiker noch als ein faszinierender Mythendeuter, indem er sich dem Widerspruch von Pop und Kultur widmet, der in einer nahezu metallischen Symbiose endete und dem Bild des amerikanischen Cowboys, den er als internationalen Mythos entlarvt, der uns jedoch mehr Auskunft über uns selbst gibt als dass er Interessen Dritter verschleierte.

Man muss nicht alle Visionen und Meinungen des Autors teilen, um nicht doch zu dem Urteil zu kommen, dass Menschen mit einer Biographie Eric Hobsbawms zu den großen Geschenken zählen, die der arge Weg der Erkenntnis für die Unermüdlichen parat hat. Von einem Vorposten des Orients, über die Kulturtempel und Politarenen des alten Europas hin zu der untergehenden Schaltzentrale eines historisch überkommenen Empires: Hobsbawm hat die jeweilige intellektuelle Sphäre, die er kulturell durchschritt, in sich aufgesaugt und dem von ihm gewählten Ordnungsprinzip, einer Vorstellung von Aufklärung im Zeitalter der sozialen Gerechtigkeit untergeordnet. Und dieses Prinzip tut gut, es ist ein Leitstern, der nichts Dogmatisches verstrahlt, weil man diesem Urgestein des europäischen Humanismus mit jeder Zeile attestieren muss, dass der Prozess des interessierten Lernens über allem steht. Neben den überaus interessanten Aspekten, die in Fractured Times betrachtet werden, ist es noch die Attitüde dieses Denkers, die schlichtweg ergreifend ist.