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Die wachsenden Ängste des R.

Die alten Chefs, in den patriarchalisch organisierten Fabriken, die nach dem Morgenritt in Stiefeln und mit der Reitgerte unter dem Arm die Arbeit inspizierten, pflegten, wenn sich Arbeiter am Ende des Monats über das beschwerten, was sie in der Lohntüte vorfanden, mit dem markigen Spruch zu antworten: „Am Lohntag zeigt sich, wer gebummelt hat!“ Aus heutiger Sicht wirkt das arrogant und zynisch, was es auch war, aber es war das Abbild einer Gesellschaft, die noch nicht im Sinne der Organisation unterschiedlicher Interessengruppen formiert war. je höher der gewerkschaftliche  Organisationsgrad wurde, desto weniger Reitpeitschen waren zu sehen und zynische Sprüche zu hören. Die Zivilisation fand Einzug in den Dialog unterschiedlicher Interessen, was ohne robuste Auseinandersetzungen nicht so gekommen wäre.

Gewerkschaften und Parteien bildeten die Organisationsformen, die über Jahrzehnte den Takt der Industriegesellschaften prägten, bevor ein Erosionsprozess einsetzte, der auf verschiedene Faktoren zurückzuführen war. Einer davon war die Korrumpierung der Organisationen des Widerstands durch die Teilhabe an Macht und, in geringfügigerem Maße, an Geld. Ein anderer Grund war der durch den Massenkonsum und die Unterhaltungsindustrie beförderten Konsumismus, der zu Lähmungserscheinungen führte. Entscheidend waren die technologischen Revolutionen, die das wissende, beherrschende und befähigte Subjekt in der Produktion numerisch in immer geringerem Ausmaß erforderlich machten. Und zuletzt wurde die Sozialisation derer, die das Wort im Kampf gegen die Macht des Besitzes führen sollten, immer weniger vom Schicksal derer, die sie vertreten sollten geprägt, sondern durch Bildungsinstitutionen und die Abkapselung in Peer Groups. 

In der Individualisierung und Subjektivierung hat der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten Quantensprünge vollzogen. Um das als gut oder schlecht zu beurteilen ist, dazu hatten vor allem diejenigen, für die es schlecht bis miserabel wurde, keine Zeit, denn sie mussten sich in immer prekärer werdende Erwerbsverhältnisse begeben. Und diejenigen, die von der basalen Existenzvorsorge befreit sind, hatten keinen Anlass, das für sie gute Leben zu hinterfragen.

Dass zur gleichen Zeit, in der der anarchisch sich über den Globus ausbreitende Finanz- und Turbokapitalismus ganz antik eine Krise nach der anderen produziert hat, dass er nach wie vor die Grundlagen dessen systematisch zerstört, was sein momentan Lukratives ausmacht, dass er vor Kriegen um Rohstoffe und Einflusssphären nicht halt macht und sich wie eh und je als anarchisches, blutsaufendes Monster auf diesem Planeten bewegt, wagen diejenigen, die es wissen, kaum noch auszusprechen. Denn hinter ihnen stehen keine starken Organisationen mehr und vor ihnen liegt eine mentale Inquisition, wie sie seit dem grausigen Torquemada nicht mehr präsent war.

Daher ist es zu erklären, dass eine momentan durch die Rat- wie Belanglosigkeit hochgespülte politische Klasse sich benehmen kann, wie der eingangs geschilderte Fabrikherr zur Neige der feudalen Epoche. Sie weisen die Konsequenzen ihrer eigenen Entscheidungen von sich, sie neigen dazu, die Verantwortung immer auf diejenigen zu schieben, die am wenigsten damit zu tun haben und die Dreistigkeit ihrer Ansichten und Vorschläge bemerken nur noch die, die auf der anderen Seite stehen. Ja, es gibt sie, immer mehr, die im Schattenreich der Gesellschaft leben und sich nicht sicher sind, ob das, was sie hören, auch tatsächlich gesagt wurde. 

Und, als stünde doch am Rande des Geschehens ein großer Regisseur von Format, der an einem Film arbeitet, der alles Vergangene sprengen wird, kommen mitten im realen Leben Sequenzen vor, die eben aus diesem imaginären Drehbuch stammen könnten.

So war vor einigen Tagen, beim Vorbeilaufen an einem Stehcafé eben dieser Satz, ergänzt um eine Adresse, tatsächlich zu hören: „Robert, denk daran, am Lohntag wird sich zeigen, wer gebummelt hat!“ Und es folgte schallendes Gelächter. Anscheinend wussten alle, wer gemeint war.