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Das Revolutionäre an Lernprozessen

Sobald irgendwo ein Fehler passiert, nimmt das Drama seinen Lauf und es wird nach Schuldigen gesucht. Das ist ein tradiertes Muster, welches allerdings längst nicht mehr in eine Zeit passt, in der so gerne von lernenden Organisationen gesprochen wird. Unabhängig davon, wo Fehler gemacht werden, in der Familie oder im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz, beim Sport oder in einem Musikensemble, der erste Reflex aller, die den Fehler bemerken, richtet sich zunächst auf die Person, die den Fehler begangen hat. Die Personalisierung von Fehlern hat Tradition. Diese Tradition erschwert es, sich weiterzuentwickeln.

Lernprozesse sind die Grundvoraussetzung für eine positive Entwicklung. Ihr Wesen besteht in dem einfachen, jedermann verständlichen Schema, das in dem Anglizismus Try & Error so prägnant umrissen und auf den Punkt gebracht wird. Vernunft- und lernbegabte Wesen versuchen zunächst, etwas zu bewirken, was ihrem Ziel oder ihrer Absicht entspricht. Gelingt das nicht, d.h. ist das Ergebnis nicht mit dem Ziel in Einklang zu bringen, so wird in der Regel von einem Fehler gesprochen. Das muss zwar nicht immer so sein, denn auch Irrtümer können große, entscheidende Entwicklungsprozesse initiieren, aber die tägliche Lernroutine besteht meistens zunächst aus der Feststellung, das Ziel aufgrund eines gemachten Fehlers nicht erreicht zu haben.

Ein konstruktiver Umgang mit der Situation des Scheiterns ist der eines neuen Versuchs. Aber auch die ständige Wiederholung einer solchen Routine entspricht nicht unbedingt einem wohl durchdachten Lernprozess, wenn aus den gemachten Fehlern keine Rückschlüsse gezogen werden. Das entscheidende Moment eines lernenden Menschen wie einer lernenden Organisation ist die Fähigkeit einer systematisierenden Fehleranalyse, die Rückschlüsse auf zukünftige Versuche zulässt. Fragen, die sich auf das Wesen des Versuchs selbst, die Rahmenbedingungen, in denen er stattfand, das soziale Umfeld etc. beziehen, sind von entscheidender Bedeutung für die Qualität der Rückschlüsse und die daraus resultierenden erneuten Versuche.

Führt die Personalisierung von Fehlern zu einer negativen Lern-Aura, so kann die Systematisierung der Fehleranalyse zu einer sehr produktiven Atmosphäre führen. Im Fokus stehen nun nicht mehr Schuldfragen, die immer emotional belastend sind, sondern Fragestellungen, die menschliches Versagen erklären und dazu beitragen, das negative Erlebnis in Zukunft zu vermeiden. Aus einer durch das Gefühl der Angst dominierten Situation im Falle der Personalisierung wird bei der Systematisierung ein Klima positiver emotionaler Stimulanz, die etwas Gemeinschaftsbildendes in sich trägt.

Soviel zu einer Theorie, die keine sonderlich radikale Denkweise erfordert, da ihre Plausibilität augenscheinlich ist. Die Schwierigkeit, diese in tägliche Praxis zu übersetzen, darf allerdings nicht unterschätzt werden und korrespondiert mit den täglichen Erfahrungen, die wir alle machen. Und gerade darin liegt eine Dimension, die aus einer zumeist psychologisch und pädagogisch angelegten Betrachtung eine Überlegung macht, die – in positivem Sinne – kulturrevolutionäre Züge trägt. Die tägliche Routine der Fehlerpersonalisierung erweist sich als eine Manifestation von Machtinteressen, die keine Transparenz in die systemischen Bedingungen ihrer eigenen Anlage zulassen.

Der Paradigmenwechsel, der sich von einer Personalisierung von Fehlern hin zu einer systematisierenden Fehleranalyse bewegt, trägt somit zu einer Dokumentation bestehender Verhältnisse und letztendlich der Veränderung von Machtverhältnissen bei. Die Schwere, die eine durchaus willige Gemeinschaft fühlt, wenn es darum geht, sich in ein lernendes System zu verwandeln, ist zu erklären aus der Furcht, bestehende Verhältnisse verändern zu müssen. Und oft ist die Furcht so groß, dass das Opfern von Individuen als das kleinere Übel erscheint.

Der Strömung die Stirn bieten!

Charlotte Kerner. Rote Sonne, Roter Tiger. Rebell und Tyrann. Die Lebensgeschichte des Mao Zedong

Die Historiographie hat in den letzten Jahren wieder besonders gelitten. Auch und gerade in Deutschland. Wer geglaubt hatte, dass sich die Darstellung historischer Ereignisse und Figuren so langsam gelöst hätte von einem intendierten ideologischen Zweck, hatte sich geirrt. Das ist betrüblich, aber leider auch nicht zu ändern. Und es ist nicht flächendeckend so. Manchmal ragen ganz plötzlich solche Werke heraus, denen es ganz unspektakulär und ohne großen PR-Aufwand gelingt, eine ganz andere Qualität an die Leserschaft zu bringen, als sie die Fronten zwischen der jeweiligen hysterischen Parteinahme vermuten lassen.

Charlotte Kerner, geboren in Speyer und heute in Lübeck lebend, ist zwar keine Historikerin, sondern Volkswirtin und Soziologin, und sie hat meistens den Beruf der Journalistin ausgeübt. Vielleicht wegen der Koinzidenz, dass sie selbst Ende der siebziger Jahre für ein Jahr in China weilte und die Erdverschiebungen nach dem Tod Mao Zedongs hautnah miterlebte und sicher aus einem vitalen Interesse hat sie sich an eine Biographie dieses Titanen gewagt. Unter dem Titel Rote Sonne, Roter Tiger. Rebell und Tyrann. Die Lebensgeschichte des Mao Zedong ist ihr ein Buch gelungen, das alle lesen sollten, die Interesse an Erkenntnisgewinn besitzen und die Lust verloren haben, sich ideologisch belehren zu lassen.

Denn die Stärke von Kerners Buch ist eine wohl tuende Distanz zu der historischen Figur Mao Zedong, die es ermöglicht, die Lebensumstände des Staatsgründers der Volksrepublik China zu objektivieren und seine intrinsische Motivation freizulegen. Zunächst frei von Urteilen werden die Schlüsselerlebnisse des jungen Mao in der Provinz geschildert, die langsame , aber stetige Entwicklung seiner Denkweise und die Herausbildung einer Persönlichkeit, die selten im Geschäft der Weltpolitik war und geblieben ist. Eine Mischung aus Poet, denn Mao verfasste von seiner Jugend bis zum Tod qualitativ hoch stehende Lyrik, und Machtpolitiker, der bei aller Empathie und Sensibilität nicht mit der Wimper zuckte, wenn es darum ging, das durchzusetzen, was er als wichtig erachtete. So entsteht das Bild eines Regisseurs der Weltgeschichte, zum Lieben und Fürchten zugleich.

Rote Sonne, Roter Tiger ist aber auch eine sehr gekonnt gezeichnete Illustration des historischen Rahmens, in dem sich das Leben Mao Zedongs innerhalb Chinas abspielte. Die ungeheuren Katastrophen, die vor Mao das Land prägten, die Demütigungen, die die Nation erleiden musste, der Befreiungsschlag der erfolgreichen Erhebung und die hausgemachten Katastrophen, die folgen sollten, aber das Land dennoch weiter brachten. Denn ohne dass die Autorin den belehrenden Zeigefinger benötigt, gelingt es ihr, die Dialektik zwischen der Kulturrevolution, ihren Verwüstungen, ihrer Niederschlagung, der erneuten Bürokratisierung und dem heutigen zivilgesellschaftlichen Widerstand zu verdeutlichen. Trotz der furchtbaren Dimension der Kulturrevolution hat sie den Keim gesetzt, der es einem Volk, dass unter einer tausendjährigen Autokratie gelitten hat, ermöglicht zu rebellieren.

Das Bestechende an diesem Buch über Mao Zedong ist nicht nur der Mangel an Rechthaberei und Verurteilung, sondern auch die angebrachte historische Relativität einer möglichen Bilanz. Nahvollziehbar beschreibt die Autorin die Lebensspanne Maos im europäischen Vergleich mit den Ereignissen aus 400 Jahren. Da relativieren sich auch die Dimensionen. Und es bleibt der Leserschaft überlassen, zu welchen Urteilen sie sich durchringt. Eine atemberaubende Perspektive im Zeitalter wachsender Belehrung!