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Im Lotterbett der Kolportage

Lange vor der Digitalisierung von Produktionsbedingungen hatte Walter Benjamin den berühmten Aufsatz mit dem Titel Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit geschrieben. In der Arbeit zeigte Benjamin, dass er seiner Zeit weit voraus war. Messerscharf analysierte er vor allem, inwieweit das reproduzierte Kunstwerk selbst die Wirkung auf das es betrachtende Publikum verändere. Er sprach von der Aura eines Artefakts, der verloren ginge, wenn die Serienproduktion bekannt sei. So weit, so gut oder so schlecht. Viele seiner Beobachtungen in diesem Aufsatz sind bis heute überdenkenswert, auch wenn selbst kaum anzunehmen ist, dass Benjamin an den Universitäten positivistischer Weltbetrachtung noch gelesen oder gelehrt wird.

Heute, im digitalen Orkan, scheint die technische Reproduzierbarkeit als Problem der kulturellen Rezeption nicht mehr die zentrale Frage zu sein. Es hat sich vor allem mit der digitalen Revolution und dem damit verbundenen Zugang zu weltweiten, kollektiven Kommunikationssystemen und deren Portalen und Foren noch etwas anderes, gravierendes getan. Das, was immer die Grundlage eines jeden künstlerischen Schaffens gewesen ist, das Kreieren von etwas Neuem, scheint der originellen Kolportage gewichen zu sein. Vor allem in den so genannten sozialen Medien ist zu beobachten, dass die sich dort tummelnden Menschen nicht die Gelegenheit einer im Vergleich zu früher ungeheuren Publizität nutzen, um ihre originellen Gedanken, Ideen, Formversuche, Erkenntnisse oder Thesen zur Diskussion zu stellen.

Stattdessen bemühen sie sich in erster Linie darum, die Kolportage zu perfektionieren. Posts, die zwar originell sind, aber nicht Neues zu bieten haben, werden geteilt, um der Community zu demonstrieren, welche genialen Zugänge man hat. Dass es sich dabei um schlichte Zufallstreffer handelt, die irgendwo im Netz gefunden wurden, spielt dabei keine Rolle. Neben dem Fakt der Kolportage kommt noch hinzu, dass es sich in den seltensten Fällen um einen Affront handelt, der eine Diskussion entfachen könnte, der man sich vielleicht auch unter Inkaufnahme einer unangenehmen Auseinandersetzung stellen müsste. Es sind Signale des Konsenses, die mit den kolportierten Posts ausgesendet werden.

Kreativität ist ein Prozess der Freisetzung von Gedanken und Gedankenkombinationen, in dem die Schaffung von einem neuen Sinnzusammenhang im Mittelpunkt steht, der letztendlich nicht nur gedacht, sondern auch materialisiert und sozialisiert werden muss. Zuerst kommt die Idee, die in eine Form zu bringen ist und dann eine wie immer geartete gesellschaftliche Akzeptanz erarbeiten muss. Dass ist ein Weg, der jeder neuen Idee und jedem kreativen Prozess bevorsteht und der gelernt werden muss, weil er alles andere als einfach ist. Das Spiel des Scheiterns ist jenen, die ihr Augenmerk entweder auf die Kunstgeschichte oder den Wissenschaftsprozess gerichtet haben, bekannt: Die geniale Idee ist nichts ohne ihre Formung oder technische Realisierung und das neue Artefakt wird verkannt, wenn die Idee und der Nutzen der Gesellschaft aufgrund von Unverständnis nicht plausibel ist.

Die angepriesene Möglichkeit der digitalen Kommunikation hat, zumindest als Massenphänomen, der Kreativität bis heute nicht die Tür geöffnet. Stattdessen wirkt ein Erziehungsprozess, den Stefan Zweig einmal, natürlich in einem anderen Kontext, denn da bezog er sich auf die Auftragsproduktionen eines Honoré de Balzac, das Lotterbett der Kolportage genannt hat. In den sozialen Netzwerken wird die Kolportage bis zum Exzess geübt, statt die Möglichkeit genutzt, das selbst Erdachte in den Sturm der Kritik zu stellen, um es zu erproben. Denn die Kritik ist die Mutter der Schöpfung, wer sie nicht aushält, der oder die kann nichts gestalten. Weder in der Kunst, noch in der Wissenschaft, und schon gar nicht in der Politik.

Oberbürgermeister, Strategien und Prinzipien

Städte sind das Ur-Gen demokratischer Theorie. Im Laufe ihrer Geschichte dokumentierten sie den Weg der urbanen Zivilisation mit allen Irrungen und Verwerfungen. Heutige Metropolen brillieren durch ihre Komplexität. Sie schillern in Richtung Zukunft und sie werfen düstere Schatten auf Perspektiven, die weit in die Vergangenheit zurückweisen. Angesichts ihres nie da gewesenen Zuwachses und der damit verbundenen multiplen Entwicklungsmöglichkeiten stehen die Städte von heute an einer Sollbruchstelle. So weitermachen wie bisher wird nicht ausreichen, um eine erstrebenswerte Perspektive für das Zusammenleben zu entwerfen. Dazu bedarf es mehr. Beispiele existieren.

Städte mit Entwicklungspotenzial haben in der Regel Traditionen, die von Bestand sind, weil sie den Zusammenhalt der Bürgerschaft herstellen können. Mannheim, eine in deutschem Maßstab mit gerade 400 Jahren junge Stadt, verdient seine Existenz einem Fürsten der Aufklärung: Er ließ die Stadt nach geometrischen Aspekten am Reißbrett errichten. Zur Realisierung dieses pionierhaften Projektes lud er Spezialisten aus allen Teilen Europas ein, die mit ihrer kulturellen und ethnischen Vielfalt quasi on the job das Prinzip der Toleranz konstituierten. Das Tor war geöffnet für Wellen politisch und religiös Verfolgter, es begann mit Schiller und den Hugenotten und ging über Südamerikaner aus den Bananendiktaturen bis hin zu den Syrern unserer Tage. Nicht, dass andere Städte eine derartige Tradition nicht auch in dem einen oder anderen Falle aufzuweisen hätten. Hier aber ist das Prinzip der Toleranz das wesentliche Konstitutionsprinzip.

Der heutige Oberbürgermeister war nicht nur der erste in Deutschland, der die Kommunalverwaltung dahin umgestaltete, dass sie in der Lage sein wird, die Ergebnisse ihres Handelns zu evaluieren und somit der Politik die entscheidende Rückmeldung zu geben, was mit ihren Investitionen bewirkt wurde. Das macht in Deutschland keine Kommune, kein Bundesland und auch nicht der Bund. International sind es Staaten wie Brasilien, Südafrika und Indien, die damit begonnen haben.

Des Weiteren sorgte dieser Oberbürgermeister dafür, dass die Stadt, basierend auf ihrer aufklärerischen Tradition, eine Strategie entwickelt hat, die sehr klar umreißt, wohin die Reise gehen soll. Dieser rote Faden ermöglicht es, die verschiedenen Interessengruppen zu moderieren. Projekte der Teilhabe schießen überall aus dem Boden, weil die Bürgerschaft dazu aufgefordert ist, sich einzumischen. Doch keine Rosen ohne Dornen: neben vielen kreativen und intelligenten Ansätzen existieren auch hier die Versuche, primitives Partikularinteresse zu camouflieren. Die Herausforderung an den leitenden und moderierenden Oberbürgermeister wie an die Bürgerschaft ist ein Lernprozess, der als ein konsens- und identitätsbildendes Erlebnis begriffen wird, um das Gemeinwesen nach vorne zu treiben. Die Ziele, Toleranz, Urbanität, Kreativität, Bildung und kulturelle Interaktion, sie sind die Richtschnur für die jeweiligen Programme, die Weise wird bestimmt von dem Ziel und dem Prinzip der Toleranz. Das geht alles nicht ohne Konflikte, aber es schafft eine Mentalität, die durchaus in die Zukunft weisen kann.

Demokratie in einer Bürgerkommune geht neue Wege, ohne die Legitimität der alten zu leugnen, sie registriert den Irrtum als Notwendigkeit, um die Chance der Innovation nicht zu verstellen. Und sie sieht in allen Teilen der Bevölkerung ein Potenzial, das im Sinne seiner Kernkompetenz genutzt werden kann, zum Wohle aller. Oder, wie heißt es Urkunde zu den Stadtprivilegien Mannheims aus dem Jahre 1652….“und alle ehrliche Leut von allen Nationen zu berufen und einzuladen“…das Wohl und Gedeih der Stadt zu erschaffen. Manchmal muss man nur die klugen Sätze der Vergangenheit in die Zukunft transponieren.

Wieviel Rebellion birgt Kreativität?

In der Diskussion um die Zukunft unserer Gesellschaft wird immer wieder eine Sozialformation genannt, ohne die eine Neugestaltung von Wirtschafts- und Gesellschaftsleben nicht vorzustellen ist. Gemeint ist die kreative Klasse. Schaut man genau hin, wird deutlich, dass mit dem Begriff eine diffuse Vorstellung korrespondiert. Von einer genauen Definition ist man noch weit entfernt. Was das Phänomen allerdings nicht weniger wichtig macht. Bekanntlich hilft Diffusion dabei, sich zu etwas zugehörig fühlen zu können, ohne es nachweisen zu müssen. Zumindest ist die Attraktion der kreativen Klasse soweit fortgeschritten, dass sich die Politik vor allem in den Städten sehr um sie bemüht.

Der Amerikaner Richard Florida gilt als derjenige, der sich zu Beginn dieses Jahrtausends pionierartig Gedanken über Rolle und Charakter der kreativen Klasse gemacht hat. In seinen Büchern The Rise of the Creative Class und The Flight of the Creative Class beleuchtete der in Washington lebende Florida Charakter, Rolle und Umfeld des Phänomens. Demnach handelt es sich um Menschen, die außerhalb der gesetzten und tradierten ökonomischen, handwerklichen und Konstitutionsformen Produkte mit einem hohen Mehrwert produzieren. Meistens handelt es sich dabei um Freiberufler oder Aussteiger, die zunächst in semantischen wie ökonomischen Nischen Akzente setzen und so in nuce Produktionsmöglichkeiten mit hohem ökonomischem Nutzen andeuten. Florida benennt neben der kreativen Klasse, die er der Dramaturgie wegen die Talente nennt, eine triadische Komposition, die erforderlich ist, um in einer Globalökonomie reüssieren zu können: Talente, Toleranz und Technologien. Sind diese drei Voraussetzungen gegeben, so kann man laut Florida davon ausgehen, dass sich ein Gemeinwesen sehr günstig entwickelt.

Seitdem diese Thesen auf dem Tisch sind, ist ein globaler Prozess zu beobachten, der es ganz gehörig auf die drei Ts anlegt: Jede Stadt, die etwas auf sich hält, orientiert sich an dieser Faustregel und versucht, einen entscheidenden Sprung nach vorn gegenüber der Konkurrenz zu machen. Sind Technologien das Ergebnis einer längeren wissenschaftlichen und industriellen Entwicklung und ist Toleranz eine Qualität, die sich historisch hat fortschreiben müssen, so kann man die Talente noch am schnellsten zu sich locken. Talente sind zwar wählerisch, aber sie entscheiden sich auch, weil sie etwas erreichen wollen. Um es einmal sehr deutlich zu benennen: Talente und Technologien kann man kaufen, solange sich hinter den Begriffen unkritische Größen verbergen. Toleranz ist tradierte Lebenspraxis, da kann man nichts herbeizaubern. Sieht man sich die vorliegenden Definitionen der kreativen Klasse einmal an, so fällt auf, dass sie rein soziologisch oder ökonomisch ausfallen. Aber genau an dieser Stelle kommt das strategische Problem.

Eine glatte, gesellschaftskonforme, affirmative Kreativität ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Das erinnert an das Idealbild einer Frau bei manch armem Tropf, der die schönste, klügste, selbstbewussteste Frau der Welt in seinem Hirn entstehen lässt, die natürlich treu und gehorsam sein soll. Kreativität ohne Rebellion gegen Tradiertes, ohne Konfrontation mit dem Bestehenden und ohne Opposition gegen das Gesetzte kann und wird es nicht geben. Und nur dann, wenn der Umgang mit diesem auch politisch unbequemen Phänomen gelingt, entsteht eine Sphäre der Toleranz.