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Der reaktive Typus

Der strategisch denkende Mensch als Prototypus der Epoche entpuppt sich als grandiose Illusion. Sie existieren kaum noch, diese Typen, die mit einer Vision von einem besseren Leben durch die Lande ziehen und sich daran machen, diese Vision zu einer handfesten Realität werden zu lassen. Die genau wissen, dass die tägliche Lebenspraxis die Voraussetzung für Glaubwürdigkeit und Legitimität ist, dass der verbale Entwurf und die passionierte Rede nichts ersetzen von dem, woraus die Wirklichkeit geformt ist. Zwar bedarf es der Gedanken, die sich aus dem Kristall des visionären Traums geformt haben, um Handlungen zu beschreiben, die durch nichts als die Tat ersetzt werden können. Letztendlich ist es immer wieder dasselbe: Es müssen Entscheidungen über sehr praktische Fragen getroffen werden und diese Entscheidungen sind umzusetzen. Das ist die Agenda aller, die als Veränderer beschrieben werden können.

Das Eigenartige an der gegenwärtigen Epoche ist die Tatsache, dass das Leben geprägt ist von einer ungeheuren Anzahl sachlicher und instrumenteller Veränderungen, dass diese Veränderungen aber nicht das Werk derer sind, die aus strategischen Gesichtspunkten für den Wandel werben. Vielmehr ist es eine sachliche, faktische Angelegenheit, die aus technischen Prozessen resultiert, die ihrerseits zumeist nicht mehr als ein Artefakt aus Menschenhand erscheinen. Der Mensch, der sich im Wirbel der Veränderungen nur so dreht, wird bewegt zum Takt technischer Prozesse, die sich verselbstständigt und eine Eigendynamik entwickelt haben. Das Subjekt steht derweilen im Museum, während das Objekt an jeder Straßenecke anzutreffen ist.

Wenn die Veränderer in die Minderheit geraten sind und das Subjekt zum Objekt geworden ist, stellt sich die Frage, wer dann die quantitative Dominanz erreicht hat. Und da hilft es nicht, nach Euphemismen zu suchen: Es ist der reaktive Mensch. Der reaktive Mensch ist zu einem mächtigen Prototyp geworden, der die wichtigsten Lebensprozesse dominiert, was als Feststellung an sich bereits absurd ist. Denn wie kann jemand, der im Wesentlichen nur reagiert, wie kann ein solcher Mensch den Prozess dominieren?

Kann er, muss leider festgestellt werden. Die Dominanz der Reaktion ist quasi zum Gütesiegel der Epoche geworden. Der Mangel an eigener Aktionsenergie in Bezug auf die Gestaltung des Daseins wird von diesem Prototypus kompensiert in einen enormen Verbrauch an Energie, um die Verhinderung von Entscheidung und Tat zu begründen und zu organisieren. Ja, oft ist der Energieaufwand, um Aktionen zu verhindern, größer als der, welcher erforderlich wäre, um die Aktion durchzuführen. In der tatsächlichen Energiebilanz einer Gesellschaft, nämlich der Gegenüberstellung von Energien, verwendet zur Gestaltung und Energien, verwendet zur Verhinderung von Veränderung, lässt sich sehr gut und einfach ablesen, wohin es mit dem Gemeinwesen geht. Ist der Aufwand der Erhaltung signifikant größer als der der Gestaltung, obwohl sich die existenziellen Rahmenbedingungen schnell verändern, dann zeichnet sich eine noch nicht sichtbare, aber immer stärker werdende emotionale Kurve ab, die in das Befindlichkeitsstadium der Dekadenz führen wird.

Der reaktive Prototyp an sich muss nicht unbedingt eine Gefahr ausmachen, solange er nicht das gesellschaftliche Handeln dominiert. Jede Gesellschaft braucht auch Kräfte der Erhaltung, Bewahrung und Konsolidierung. Aber sie kann sich keinen Gestus leisten, der die Veränderung wertemäßig ausschließt. Das ist nahezu ein Putsch gegen die Möglichkeit der Fortexistenz. Der reaktive Typus als dominierende Figur eines Gesellschaftsmodells, das ist der Sensenmann, das kann die Vorschriftensammlung unter seinem Arm genauso wenig kaschieren wie das schnelle Auto, in das er steigt, wenn die Arbeit vollbracht ist.

Innovation und Konsolidierung

Die Frage ist  mindestens so alt wie das geschriebene Wort. Soziale Systeme verfügen über Statik wie Dynamik, Stabilität und Innovation, Konstruktion und Destruktion. Seit wir über eine Historiographie verfügen sind wir in der Lage, politische, soziale, wirtschaftliche oder Familiensysteme auf ihre Konsistenz hin zu analysieren. Das Interessante bei allem Erkenntniszuwachs ist das Handeln der Menschen, trotz dieses ungeheuren Studienmaterials immer wieder in die gleichen Fallen zu tappen: Die Überdehnung einer Komponente innerhalb eines Systems, das zumindest beides braucht. Auf längere Sicht, und wie der Inflationsbegriff es momentan so penetrant formuliert, nachhaltig existieren Systeme nur, wenn dem Wachstum die Erholung folgt, wenn der Sensualismus über ein Maß an Spiritualität verfügt, wenn der Revolution die Restauration wieder eine Phase der Regeneration verschafft.

Da das Problem eine antikes wie universelles ist und da die Unausgewogenheit in der profanen Praxis schnell erklärt ist, nämlich entweder durch kognitiv ungetrübtes Temperament oder durch partikulare Interessen, ist es auch kein Wunder, dass die Konzepte der philosophischen Welterklärung von den antiken Mustern der Autopoiesis über Sensualismus und Spiritualismus, Materialismus und Idealismus bis hin zu Objekt-Subjekt-Konstruktionen der Moderne reichen. Und ebenfalls kein Wunder, dass bis in die heutigen Managementtheorien nach der Stabilität von Systemen gesucht wird und dort mit Termini wie denen der Innovation und Resilienz gearbeitet wird.

Politische Parteien pflegen in der Regel, und das ist das Interessante, jeweils nur ein Wesensmerkmal der systemischen Interdependenz zu bedienen. Die einen schielen dabei auf das Votum der Innovatoren, die anderen eher auf das der Konsolidierer. Das politische System selbst allerdings kann nur funktionieren, wenn beide Systemelemente in ausreichendem Maße und wissentlich bedient werden. Auch das System Gesellschaft geht zugrunde, wenn das Bestehende immer weiter als politisches Ziel an sich stabilisiert wird oder auf der anderen Seite die Innovation exklusiv als ultima ratio über allem steht. Die Lösung, die dem politischen System für diesen Antagonismus vorschwebt, sind die Legislaturperioden, die in einem Intervall den Auftraggebern, d.h. dem Volk, die Chance geben, der Überdehnung des einen systemischen Aspekts durch einen Wechsel der politischen Mehrheit als Korrektiv entgegenzusetzen.

Historisch beanspruchten die beiden großen Volksparteien ein Sowohl-als-Auch zu sein, nicht im Sinne einer politischen Verwässerung, sondern im Sinne der Erfahrung im Umgang mit dem komplexen System der Politik. Das unterschied die beiden Volksparteien von dem Rest, der zumeist bestimmte, politisch durchaus relevante und notwendige, aber dennoch Teilaspekte zur Hauptprogrammatik erhob. In Zeiten der Dominanz jeweils einer Volkspartei herrschte auch der jeweilige Akzent vor, bei den Konservativen das Interesse des Unternehmertums und die Systemkonsolidierung, bei den Sozialdemokraten die Arbeitnehmerinteressen und die Systemveränderung.

Das Skurrile einer Großen Koalition liegt somit auf der Hand: Zwei Partner, die für sich reklamieren, den existenziellen Bedarf des gesamten Systems zu kennen und die sich lediglich in Bezug auf ihre jeweilige pressure group unterscheiden, sollen sich mit einem gemeinsamen Programm positionieren. Das kann funktionieren, wenn der Konsens über notwendige Prioritäten staatlichen Handelns groß ist. Und betrachtet man die jeweiligen Programme, so sind die Unterschiede nicht so groß. Bewegt eine derartige Koalition nichts, so kontaminiert sie den Begriff der Politik in einem ungeahnten Ausmaß. Setzt sie vieles um, dann muss sie sehr dirigistisch vorgehen, was nicht dem Zeitgeist entspräche. Es täte dem Land allerdings gut, und wer klagte dann noch, wenn der Konsolidierung um ihrer selbst willen endlich wieder einmal eine Phase der Innovation folgte?