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Wird noch ein Wunder geschehen?

Und wieder dreht sich das Karussell ganz schnell. Die, die früh genug den Gurt umgelegt haben, bleiben drin. Und die anderen, die noch einen Moment lang überlegen wollten, sind bereits durch Beschleunigung und Fliehkraft herausgeflogen. Wie bei allem, was in den letzten Jahren passierte, gibt es nur zwei Lichtzonen. Wir leben eben im binären Zeitalter. Schwarz und Weiß. Wir sind immer dort, wo das Licht, wie Wahrheit und die richtigen Werte sind. Und der Rest ist die Brut des Teufels. Wenn Kinder solche Spiele spielen, greifen wir ein. Wir versuchen zum Nachdenken anzuregen und schlagen den einen oder anderen Perspektivenwechsel vor. Hat der Teufel auch Kinder? Wo gehen die zur Schule? Welchen Beruf würden sie gerne ausüben, wenn sie mit der Schule fertig sind? Die Gespräche, die mit Kindern aus solchen Fragestellungen resultieren, sind auch für Erwachsene sehr bereichernd. Sie lehren, neben der Selbstverständlichkeit, dass es immer mehrere Möglichkeiten der Betrachtung gibt, auch eine tiefe Menschlichkeit, die den unverdorbenen Seelen innewohnt. Früher nannte man so etwas Menschenbildung. Heute verfügen über sie anscheinend nur noch die Kinder.

Denn in der Politik und der sie treibenden Medien wird das Spiel ohne Unterbrechung durchgezogen. Ob Weltfinanzkrise, Syrienkrieg, Corona, Ukraine, Aserbaidschan/Armenien/Berg-Karabach oder Israel/Palästina: in dem offiziellen Reglement existiert nur eine Wahrheit. Wer sich ihr schnell verschreibt, der wird belohnt und bleibt im Spiel. Wer mehr wissen will, wer andere Aspekte in einen Prozess, den man Wahrheitsfindung nennt, bringen will, dem wird das Übelste unterstellt. Dass dem so ist, wissen wir seit langer Zeit. Und dass bezahlte Hetzer die Kommentarspalten der so genannten etablierten Presseorgane mit ihrem Hass kontaminieren, ist keine Neuigkeit. Dass allerdings die Volksvertreter ohne Räsonnement ins gleiche Horn blasen, hat mit dieser Regierung einen vorher nicht gekannten Höhepunkt erreicht.

Sei es drum. Viele, die man hört, in den Straßen, in den Cafés, auf den Sportplätzen, in den Theatern, in den Kaufhäusern und im Büro, sind entsetzt, verzweifelt und wütend über die Schamlosigkeit, mit der die Komplexität dieser Welt durch Staat und Medien verballhornt wird. Kurios ist das schon. Weil diejenigen, die sich an dieser alles in den Schatten stellenden grandiosen Vereinfachung verlustieren es doch sind, die dem ungebildeten Mob bei jeder Gelegenheit vorwirft, er verstünde die Komplexität der Welt einfach nicht. Die vermeintlich Schlauen lachen über die Dummen und die Dummen sehen mehr, als die Schlauen ahnen. 

Da soll man sich noch zurecht finden und nicht verzweifeln! Ein Satz, der zu den meist gesagten seit einiger Zeit in diesem Land zu hören ist. Ein guter Rat ist es, sich immer dann, wenn man ihn hört, ein bisschen sicherer zu fühlen, weil er dokumentiert, dass die ewige, einfältige und zunehmend aggressiv daherkommende Schwarz-Weiß-Malerei bei immer mehr Menschen einfach nicht mehr zieht. Da braut sich etwas zusammen, das nichts Gutes verheißt. Denn soviel ist gewiss, sanft wird es nicht zugehen, wenn die Zeit gekommen ist, die aggressiven, die immer lauter schreienden und waffenrasselnden Hetzer aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Ohne Gewalt werden sie nicht weichen. Wer zu wissen glaubt, dass noch ein Wunder geschehen wird, singt nur ein schönes, aber längst verblichenes Lied.  

Monothematische Fokussierung

Wir alle kennen das. Menschen, die sich zu sehr in ein Thema verstricken, wirken auf ihre Umwelt immer absonderlicher und irgendwann, ab einem bestimmten Stadium, sind sie und ihre Umwelt kaum noch kommunikationsfähig. Wer ehrlich ist, hat es auch schon an sich selbst beobachtet. Im Positiven kann das eine Arbeit über einen oder in einem Spezialgebiet gewesen sein, wo man für einen bestimmten Zeitraum so in der Materie steckt, dass der Aufwand, es einem Außenstehenden zu erklären, kaum noch der Mühe wert erscheint. Auf der anderen Seite reagiert die Umwelt dann zunehmend mit Unverständnis. Oder man fühlt sich ungerecht behandelt, sammelt alles zur Verfügung stehende Material und beginnt mit einer Dokumentation, die immer komplexer wird und die kaum noch jemand hören will. Die eine Verwerfung, auf die es ankäme, geht unter in zu viel Wissen um die Details, die Fokussierung bleibt aus. 

Doch solange eine solche Entwicklung für einen zeitlich begrenzten Raum anhält, ist das zu handhaben. Schwierig wird es, wenn kein Ende abzusehen ist. Dann beginnen sich massive Schäden herauszubilden im Gefüge derer, die intern wie extern davon betroffen sind. Diejenigen, die sich nur noch in der Welt eines Details bewegen und diejenigen, die die Komplexität des Daseins noch genießen oder auch zu bewältigen haben. Vor allem die innerhalb des Details laufen Gefahr, den Anschluss an die Gesellschaft insgesamt zu verlieren. In einem solchen Stadium kann man von einer nachhaltigen Verwerfung sprechen, und in einem solchen Stadium scheinen wir uns momentan zu befinden.

Das beschriebene Phänomen sei hier einmal die monothematische Fokussierung genannt. Hier und jetzt betrifft sie Corona. Böse Zungen behaupten, die erlebte monothematische Fokussierung auf das Phänomen diene nur dazu, abzulenken von einem Prozess der kollektiven Entrechtung. Lassen wir das hier einmal außer acht, denn es könnte noch schlimmer kommen. Denn es ist sehr einfach, sich ein Bild von der noch immer existierenden Komplexität der Welt zu machen. Nur hier und jetzt, in der medialen Kommunikation dieses Landes, scheint es außerhalb in vielerlei Hinsicht  missratenen Managements einer pandemischen Krise nichts mehr zu geben. Jedes Detail, ob wichtig oder nicht, wird von einer Meute selbst ernannter Kommunikatoren, Fachleute, Kommentatoren und Politikern kommentiert und reflektiert. Es soll der Profilierung dienen, bewirkt jedoch das Gegenteil, oder, präziser, es dient zu Erstellung eines negativen Profils: das des monothematischen Nerds, der sich erbricht in der eigenen Bedeutung. 

Jenseits aller Virus-Phänomene, ob sie uns nun für einen langen Zeitraum erhalten bleiben oder nicht, wird es ein Sein nach dieser Episode geben. Und es wird eine Rolle spielen, was für Strategien die einzelnen Menschen und Organisationen für diese Zeit nebst den nötigen Kompetenzen haben. Bleibt es bei der ritterlichen Rückschau nach einem versauten Turnier, wenn das ganze Elend vorbei ist, und danach sieht es aus, dann sind all die bedeutungsträchtigen Kommentatoren des medialen Hypes längst in der Versenkung verschwunden. Aus, tot und vorbei!

Denn dann geht es wieder um Hegemonialkriege, um Rohstoffe, um Märkte, um sinkende Städte und brennende Wälder. Oder es geht um etwas ganz Neues. In beiden Fällen geht es nicht um die Lorbeeren für eine überstrapazierte monothematische Ausrichtung. Und diejenigen, die heute diesem schalen Drama mit großer Erregung folgen, werden sehr schnell begreifen, wie nichtig das alles war. Das Leben wird weiter gehen. Egal wie.

Chinesische Reissäcke und deutscher Kampagnenjournalismus

Die Zeiten, in denen es hieß, es interessiere nicht, ob in China ein Sack Reis umfalle oder nicht, sind lange vorbei. Die globale Vernetzung der Ökonomie und die Interdependenz politischer Prozesse haben tatsächlich eine Komplexität entstehen lassen, die die pur lokale Betrachtung nahezu ausschließt. Die Darstellung des Weltgeschehens ist anspruchsvoller geworden. Umso beklagenswerter ist der Umstand, dass eben dieser erforderliche Qualitätsschub in der Berichterstattung systematisch verhindert wurde. Es existiert nicht einmal mehr der Anspruch, dieser Komplexität gerecht zu werden. Das mit mangelnder Lese- und Abstraktionskompetenz der Nachrichtenkonsumenten zu begründen, ist bloßer Zynismus.

Nicht, dass sich das Wesen der Zeitungsproduktion geändert hätte. Schon ein Honoré de Balzac wies in seinem bahnbrechenden Roman „Verlorene Illusionen“ daraufhin, dass es beim Pressewesen nicht um die Wahrheit oder geschriebene Qualität, sondern um Verkaufszahlen ginge. Ein Blick auf die Besitzverhältnisse im Pressewesen zeigt eine nie dagewesene Konzentration. Das besonders in Deutschland gepflegte Korrektiv der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hat dem Druck, den private Meinungsmonopole erzeugten, nicht standgehalten. Die Ursachen sind vielschichtig. Sie liegen unter anderem im allgemeinen Trend zum Inseratenjournalismus und in der Instrumentalisierung des gesamten Apparates zum Sprachorgan der herrschenden Regierung. Das Resultat ist jeden Tag zu beobachten. Die Qualität in Bezug auf Recherche, Stil und Inhalt ist schlecht und die Dechiffrierung der Komplexität findet nicht statt. Was bleibt, ist ein Substrat, das die Meinung der Auftraggeber widerspiegelt.

Der anfangs zitierte Sack Reis ist wichtiger denn je. Nicht, um die Welt zu erklären, sondern, um von ihren tatsächlichen Funktionszusammenhängen abzulenken. Jeder Tag liefert dafür Belege. Allein an diesem Wochenende wird, abgesehen von den längst bekannten Manipulationschiffren einmal abgesehen, die Selektion der Themen zum Indiz. Im Iran fanden Demonstrationen gegen die Regierung statt. Das ist wichtig und interessant. Die Art, wie darüber berichtet wird, klingt allerdings eher wie eine späte Legitimierung des Drohnenmordes an einem persischen General. Im Irak demonstrierten zur gleichen Zeit über eine Millionen Menschen für den sofortigen Abzug aller US-Truppen aus dem Land. Dazu kommt kein Wort. 

In China ist kein Sack Reis umgefallen, sondern das Coronavirus ausgebrochen. Darüber wird berichtet, allerdings mit dem Zungenschlag, die Regierung täusche vor, das Problem lösen zu können. Wären da nicht deutsche Forscher aus der Berliner Charité, die den überforderten Chinesen helfen würden. Dass in der Provinz Wuhan in einer Woche (!) ein Krankenhaus explizit für diese Herausforderung entsteht, wird nicht zum Anlass genommen, die eigene Unfähigkeit, durch eine ausufernde Kollektion von Vorschriften und eine nicht mehr funktionierende Bürokratie zu beleuchten, zeigt das Muster. Es besteht aus einer Mischung aus Größenwahn und einem schlummernden, von Angst durchtränktem Minderwertigkeitskomplex.

Und die Komplexität eines Phänomens wie dem Klimawandel reduziert der Kampagnenjournalismus auf die Frage des Individualverhaltens eines Promilles der Weltbevölkerung. Dabei handelt es sich um keine Erklärung, sondern um die Herrschaftsfantasie mittelständischer Parvenüs aus der alten Welt.

Und in Frankreich lässt ein Präsident, der hier als der große Hoffnungsträger präsentiert wird, das eigene Volk kontinuierlich von einer außer Rand und Band geratenen Polizei Wochenende für Wochenende brutal zusammenschlagen. Davon erfährt man von den selbst ernannten Qualitätsmedien nichts. Was vermeldet wird, ist, dass „der Franzose“ gerne streikt und es mit der Arbeit nicht so hat. Als Macron Präsident wurde, attestierte man ihm das Prädikat der letzten Bastion gegen die neue Rechte. Wer sich seine Bilanz ansieht, sollte zu dem Schluss kommen, dass er es mit seiner neoliberalen Agenda zur Avantgarde eines neuen Faschismus gebracht hat. Kritische Reflexion? Fehlanzeige! 

Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Liquidatoren dessen, was sich im Allgemeinen als Demokratie in den Köpfen festgesetzt hat, sitzen zu einem profunden Teil in den Institutionen, die die Komplexität der Welt erklären sollen.