Schlagwort-Archive: Kommunikation

Loya Dschirga

Jetzt treffen sie wieder aufeinander. Die verschiedenen Welten. Die eine, die die andere nicht versteht. Und die andere, die die eine versteht, aber dennoch verständnislos den Kopf schüttelt. Dabei wäre auch bei diesem Zusammenprall der Kulturen sehr viel Raum für Verständnis, Erleuchtung und Gemeinsamkeit. Aber wir haben vor allem im letzten Jahrzehnt, seit den Vergeltungsschlägen der US-Luftwaffe gegen Rebellen im afghanischen Hochland, registrieren müssen, dass die Kommunikation mit den Repräsentanten der Stämme gar nicht funktioniert. 2002, bei der ersten von westlichen Beobachtern begleiteten Loya Dschirga, der jährlich stattfindenden Versammlung von ca. 2500 Stammesfürsten, Gemeindeältesten, Politikern und Warlords, da stammelten die westlichen Reporter regelrecht ihr Unverständnis in die bereit gestellten Mikrophone. Nichts sei organisiert, es gebe keine Tagesordnung, keine Informationsvorlagen oder Tischvorlagen und selbst die Rednerliste sei Gegenstand ständiger Verhandlung. Wie solle, so damals und alle Jahre wieder die Frage der westlichen Journalisten, denn bei einem derartigen Chaos etwas herauskommen?

Unabhängig davon, was ab heute in den nächsten Tagen der Loya Dschirga zur Verhandlung steht – es wird die Kooperation mit dem Westen nach Abzug der Militärverbände sein -, die Veranstaltung wäre prädestiniert dafür, etwas über Wesen und Befindlichkeit dieser Kulturzone der Welt zu lernen. Und um es gleich zu sagen: mit westlichen Maßstäben gemessen ist alles noch schlimmer als uns in den Nachrichten übermittelt: Die Sitzungen sind unter dem Aspekt der Sitzungs- und Konferenztechnik überhaupt nicht vorbereitet. Was aber exzellent funktioniert, das ist die Versorgung in den großen Zelten, die mit wertvollen Teppichen ausgelegt sind, in denen man auf dem Boden sitzt, Tee trinkt, dazu sich Konfekt oder Gebratenes gönnt und das eine oder andere Haschpfeifchen entzündet. Die Agenda der Loya Dschirga besteht aus nur einem: eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Beteiligten sich wohlfühlen und allmählich bereit werden, um über Dinge zu verhandeln, die ihren Sprengel betreffen. Da geht es um sehr handfeste Interessen, die alle, noch einmal: alle zur Sprache gebracht und verhandelt werden müssen. Nur dann entsteht eine Lage, in der die vielen Einzelergebnisse auf eine andere Ebene transportiert werden, die abstrakter formuliert ist und als die politische Aussage später auf einem Papier steht.

Loya Dschirga, das ist ein ungeheuer partizipativer Workshop, der erst beginnt, wenn die 2500 Teilnehmer einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben, der sie dazu befähigt, das preiszugeben, was sie bewegt. Und erst wenn das geschehen ist, beginnt der Westen, Ergebnisse zu erkennen. Seine Erkenntnis fokussiert sich auf die kondensierte politische Aussage, die vielen tausend kleinen Problemlösungen, die dieser zugrunde liegen, die sieht er nicht.

Der Faktor Zeit, der aus dieser Perspektive nicht angemessen betrachtet werden kann, wird dabei unterschätzt. Die Botschaft, die dieser Form der Verhandlungsführung zugrunde liegt, könnte respektvoller nicht sein: Egal, wie lange es dauert, es wird kein Ergebnis geben, solange wir einander nicht vertrauen und nicht alles auf den Tisch gelegt worden ist. Der Rest, die programmatische Formulierung, ist ein Abfallprodukt dieses Prozesses. Unter dieser, der Loya Dschirga und damit der Stammesfürsten Sichtweise, ist umgekehrt die westliche Verhandlungsführung ein krudes, einschränkendes Top-Down, das im Takt der Uhr ungeduldig auf den Tisch schlägt und die ganz praktischen Belange aus dem täglichen Leben bereit ist zu ignorieren. Derartig unterschiedliche Perspektiven sind nicht dazu angetan, eine Kommunikation gelingen zu lassen. Das Versagen der Loya Dschirga vorzuwerfen, klingt in diesem Kontext nahezu barbarisch.

Die Sintflut

Friedrich Nietzsche war es, der auf die Frage, ob der Mensch in der Lage sei, die Natur zu vernichten, das Bild mit dem Ochsen lieferte. Eben wie ein solch starkes Tier die lästigen Insekten im Sommer, ebenso werde die Natur die Menschen von sich abschütteln, wenn es ihr zuviel werde. Aber natürlich musste der Philosoph, der nichts mit dem Gott des Abendlandes am Hut hatte, so reden. Dennoch finden sich in seinem Werk Hinweise, die eine Art historischen Determinismus durchaus vermuten lassen. Bestimmte Ereignisse in unserer Geschichte haben einen antizipierenden Charakter. Das Maß und die ganze Dimension der frühen Botschaft wird allerdings erst später, aus der historischen Betrachtung deutlich.

In diesem Licht erscheint die gegenwärtige Sintflut, die sich anschickt, die Mitte Europas und seine Protagonisten zu ertränken wie die Ratten, als ein derartig antizipierendes Ereignis, das vor allem Einstellung und Verhalten der dortigen Bewohner auf recht unkonventionelle Weise in Rechnung stellt. Und bei genauem Hinsehen verwundert doch gar nicht, dass die Mächte der Natur nun zuschlagen, um dem ganzen Elend ein Ende zu bereiten.

Wie sollte es denn für das Nicht-Humane-Sein noch zu ertragen sein, dass alle Energie, die dem Menschen in diesen Breitengraden zur Verfügung steht, verbraucht würde zur Austragung von Scheindebatten und zur Zelebrierung einer praktisch folgenlosen Symbolpolitik? Alles Gewese und Kommunizieren führt zu keinen Lösungen, es geht immer nur um partikulare Interessen und nicht um etwas, was die Römer noch als Res Publica, die Sache der Öffentlichkeit, bezeichneten. Wie die Raffgeier sitzen die einzelnen Lobbygruppen an ihren Zähltischen und führen Buch über den Ertrag. Und es ist nicht nur ein Verhalten, das man bequemerweise den Politikern vorwerfen darf. Das Ausmaß an Verwahrlosung scheint in jedes Zimmer.

Das, was als das Kommunikationszeitalter bezeichnet wird, hat in der Mitte Europas seine eigene Grundlage verloren. Der Kommunikationsforscher Micheal Tomasello, der am Max-Planck-Institut in Leipzig, jener Stadt, aus der Nietzsche kam, über die Ursprünge der menschlichen Kommunikation forschte, kam zu dem Ergebnis, dass die primordiale Voraussetzung gelungener Kommunikation eine gemeinsame Intentionalität sei. Das ist so lapidar wie selbstverständlich. Im Fazit trifft es aber den Nagel auf den Kopf: Die hierzulande allzuoft beklagte fehl geschlagene Kommunikation scheitert zumeist an einer nicht vorhandenen gemeinsamen Absicht.

Und während es kübelweise weiter schüttet und im wahren Sinne des Wortes Mitbürger in den Fluten ertrinken, scheint die Lektion immer noch nicht begriffen worden zu sein. Schon taumeln wieder irgendwelche, dahergelaufene Profilneurotiker vor die laufenden Kameras und faseln etwas von schlechten Katastrophenplänen, von einer defizitären Ausrüstung des Katastrophenschutzes und notwendigen Frühwarnsystemen für extreme Niederschläge im Sommer. Und wieder sind unter den Zeugen dieser delirierenden Aussagen viele mächtig davon beeindruckt und werden bei der nächsten Wahl, die ja nicht mehr lange auf sich warten lässt, diesen verwirrten armen Seelen ihre Stimme geben.

So genommen bleibt der Kreislauf einer nicht mehr zutreffenden Wahrnehmung stabil und das ganze Geschmeiß, das sich jetzt von der Sintflut temporär bedroht fühlt, wird so weiter machen wie bisher. Es werden noch die Welterklärer auftauchen, die es auch schon immer gewusst haben, wohin die ungezügelte Lebenslust führt, und die Misanthropen, die schon immer wussten, dass das alles sowieso nichts werden kann. Stimmen, die eine Vorstellung von einem guten Leben nach der Flut haben, sind bis jetzt nicht zu hören. Und sollten sie laut werden, wird man sie schnell zum Schweigen bringen. Wäre ja noch schöner! Und wer nicht lernen will, muss sterben. Das war schon immer so. Und vielleicht ist es auch gut so!

Die Teleologie der Individuation

Müßig und alt sind die Diskussionen, die sich um die deterministische Variante des wahren Daseins mühen. Der Verweis auf die Rahmenbedingungen der Existenz zu ihrer ausschließlichen Erklärung entschuldigen das Subjekt, für das eigene Dasein verantwortlich zu sein. Sie formen das Subjekt zum Objekt um. Die exklusive Fokussierung auf das Individuum neigt dazu, die Bedingungen, unter denen menschliches Handeln wirkt, zu bagatellisieren. Die Anwendung dieses Deutungsmusters führt in der Regel zu einer zynischen Atmosphäre, die der Suche nach Erklärung nicht gerecht wird.

Bei kritischer Betrachtung der tatsächlichen Individuation menschlicher Existenz in Post-Moderne und Kommunikationszeitalter fällt auf, dass eine Gegenbewegung gegen den aufklärerischen Gedanken, der die Verantwortung des Individuums in einem virulenten Gemeinwesen in den Mittelpunkt stellt, kompromittierende Akzente gesetzt hat. Die Frage nach der individuellen Verantwortung spielt keine relevante Rolle mehr, zumindest nicht in Stadien des Selbstreflexion des Individuums.

Fragestellungen, die sich mit diesem für das Gemeinwesen wie für das Individuum gefährlichen Missstand beschäftigen, können kaum noch anders als unter Deckung erörtert werden. Die Thematisierung in einer omnipräsenten Öffentlichkeit führt zu Ausgrenzung und Verdächtigung nach den erprobten Mechanismen der politischen Marginalisierung essentieller Kritik. Die kritische Überprüfung des eigenen Ichs wird zu einer systemischen Bedrohung der entmündigten Gemeinschaft.

Die beabsichtigte Wirkung einer Individuation in Gemeinschaft kann wie folgt beschrieben werden: Das Individuum will dem Ziel näher kommen, den unabdingbaren Maximen des Lebens in Gemeinschaft im eigenen Wirken zu entsprechen. Es muss danach trachten, Gesten der Demut und der partiären Passivität zu internalisieren. Das Zuhören darf nicht als Qual empfunden werden, der Respekt gegenüber dem Gegenüber muss als Axiom begriffen werden und das Voraussetzen einer gemeinsamen Intentionalität darf nicht dem Zweifel unterliegen.

Indem sich Gemeinschaften etablieren, die unabhängig von den gesellschaftlichen Gravitationskräften existieren, bieten sie dem Individuum die Möglichkeit, die Maxime „Du musst dein Leben ändern“ zu erproben. Sie ermöglichen einen Diskurs mit hoher Fehlertoleranz, eine der Lebenslinien lernender Organisationen, und die damit verbundene Perspektive neuer Horizonte. Das Individuum kann sich erproben im Respekt von heterogenen Auffassungen, in dem es lernt, die redlichen Motive anderer Meinungen zu beobachten, ohne auf die eigene empfundene Mission zu verzichten.

Das erfordert Disziplin im Sinne von Selbstkontrolle, die Domestizierung von Affekten und die Formung der Tugend der Geduld. Der Diskurs als Modell der eigenen Verfeinerung und Verbesserung transferiert die Einsicht, dass eine vitale Verbindung von Mikrokosmos und Makrokosmos existiert, die sich als interdependent entlarvt. Nur wenn das Individuum begreift, dass die Funktions- und Sinnzusammenhänge der komplexen Existenz Analogien zu den eigenen Mustern im individuellen Dasein aufweisen, wird es ihm gelingen, die Arbeit an sich anzugehen.

In der Phase, in der das Erlernen zentral ist, muss das Weitergeben noch warten. Es geht darum, die Rauheit der eigenen Oberfläche zu erfühlen, die Sensibiliät für das bei anderen Anstößige zu entwickeln und damit zu beginnen, an den Irritationen des eigenen Ichs zu arbeiten, ohne das Charakteristische, welches zur Aufnahme in den Kreis der exklusiven Gemeinschaft geführt hat, preiszugeben. Das an sich arbeiten, um im Diskurs mit Gleichgesinnten gedeihlich zu bestehen, ist die Voraussetzung für die Entwicklung der Gemeinschaft. Es aktiviert die archaische Frage, wie der Prozess des Menschen als sozialem Wesen zu gestalten ist. Das Wort geht der Tat voraus, beurteilt wird die menschliche Existenz nach ihren Taten. Die Existenz selbst ist etwas zu Leistendes.