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Die ewig junge demographische Keule

Es ist auffällig und dennoch schweigen nahezu alle. Die demographische Kurve unserer Gesellschaft weist momentan eine starke Abweichung von der Normalverteilung auf. Um es populär und auf der Erscheinungsebene auszudrücken: Es gibt zu viele Alte und zu wenig Junge. War die Nachkriegsbevölkerung in Form einer Pyramide abbildbar, in der eine starke jugendliche Basis für große gesellschaftliche Dynamik sorgte und einer relativ geringen Zahl an Alten, so haben der Wandel der Familie, die wachsende Individualisierung sowie die Pille dazu geführt, dass sich nun die Pyramide gedreht hat. Einer relativ schwachen jugendlichen Basis steht ein übermäßiger Kopf an Alten gegenüber. Aber, das sollte nicht vergessen werden, bei allen prognostischen Diskussionen, auch diese Phase ist temporär. In einem Vierteljahrhundert ist mit einer Versäulung des Bildes zu rechnen. Das wird weniger dramatisch sein, als die Endzeitphilosophen heute der Öffentlichkeit weis machen wollen.

Die demographische Struktur einer Gesellschaft hat eine hohe soziale Brisanz. Denn Biologismen bestimmen in starkem Maße die Bewegungsrichtung einer Gesellschaft. Überwiegend junge Gesellschaften, in vielen Schwellenländern sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahren, streben nach vorne, ein großer Teil der Bevölkerung möchte etwas abhaben von einem Kuchen, der erst noch gebacken werden muss. Provisorische Lebensumstände werden als Normalität auf einem Weg zum Besseren akzeptiert. Überalterte Gesellschaften hingegen sind auf Besitzstandswahrung aus, sie streben nach Sicherung und Schutz. Der Ausbau der Sicherheitsvorschriften, einhergehend mit einem zunehmenden Bedrohungsgefühl, und die Ausdehnung des Verbraucherschutzes innerhalb unserer Gesellschaft sind solche Phänomene, die typisch sind für eine Überalterung.

Das alles kann ganz entspannt betrachtet werden, solange nicht die ein demographisches Gefüge dominierenden Kohorten versuchen, ihre Position zu missbrauchen und Dinge zu beeinflussen suchen, die außerhalb ihrer ethischen Kompetenz liegen. Ein Beispiel für das Gegenteil sind die Rollen der verschiedenen Generationen in so genannten Naturvölkern, in denen eine demographische Normalverteilung vorherrscht. Da hat jede Generation ihre definierte Rolle im Gesamtgefüge, d.h. sie sind pars pro toto, Teil des Ganzen. So verstehen sie sich auch selbst und so agieren sie. Die Jungen warten und durchlaufen bestimmte Rituale, bevor sie dem Privileg von Macht und Verantwortung zugeführt werden. Und die Alten besitzen die Weisheit, dann, wenn ihre Wirkungsspanne auf die Zukunft zu gering wird, sich aus den öffentlichen Belangen zurückzuziehen.

Die als Überalterung bezeichnete Situation unserer gegenwärtigen Gesellschaft verweist in diesem Zusammenhang auf ein nicht zu unterschätzendes Problem. Es besteht in der fehlenden sozialen Demut der Alterskohorte, die momentan die Pyramide auf den Kopf stellt. Um nur zwei Bespiele zu nennen: Bei dem Volksentscheid in Hamburg, in dem es um eine Ausdehnung des Grundschulaufenthaltes um zwei Jahre ging, waren es die über 65-Jährigen, die die Reform zu Fall brachten und bei Stuttgart 21 sind es vor allem Vertreterinnen und Vertreter der Generation, die das Bauende kaum noch erleben dürften, die den Widerstand gegen das Projekt am vehementesten organisieren. Derartige Entwicklungen werden zu einem tiefen Riss zwischen den Generationen führen. Zu vertreten werden diejenigen ihn haben, deren gesellschaftliche Verweildauer absehbar ist. Wenn das kein Egozentrismus ist.