Das Phänomen ist bekannt wie benannt. Ein Individuum kennt die Ursachen für einen beklagenswerten Zustand, macht aber nichts, ihn zu beenden, weil das Wissen um konfligierende Mächte den Aufwand als zu groß erscheinen lässt. Der amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger nannte diese Erscheinung treffend kognitive Dissonanz. Wenn man sich die Verhaltensweisen von Menschen in einem Geflecht sozialer Beziehungen vor Augen führt, wird deutlich, dass kognitive Dissonanz quasi zum sozialen Alltag von Individuen gehört. Dass das Phänomen allerdings nicht zur Lösung von Konflikten führt, weil es Kausalitäten tabuisiert, ist eine Binsenweisheit. Die Sozialpsychologie rät, die Misere der kognitiven Dissonanz durch den Versuch offener Kommunikation aller beteiligten Parteien aufzulösen.
Dramatisch wird kognitive Dissonanz, wenn sie kollektiv zu wirken beginnt und eine politische, d.h. die gesamte Gesellschaft betreffende Dimensionen annimmt. Wenn ganze Gesellschaften bestimmte Ursachen für Missstände kollektiv ausblenden und nichts dagegen unternehmen, weil sie Unannehmlichkeiten vermeiden möchten, geraten sie in der Regel in weitaus prekärere Situationen, als sie es vielleicht wahrhaben wollen. Nichtstun ist die denkbar schlechteste Option.
In Anbetracht der jüngeren deutschen Geschichte ist es unvermeidlich, die Nachkriegskonstellationen nicht wahrgenommen zu haben und die Ereignisse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der deutschen Vereinigung auszublenden. Insofern ist es folgerichtig, ein markantes Sicherheitsbedürfnis Russlands, das den höchsten Preis in der Bezwingung des Hitler-Faschismus bezahlt hat, zu konstatieren. Was die Entwicklungen in der Ukraine anbetrifft, so herrschte in der bundesrepublikanischen Berichterstattung sogar eine Art Common Sense in Bezug auf die Beschaffenheit der ukrainischen Gesellschaft, den Terror gegen die russische Bevölkerung, die Korruption und die mafiösen Strukturen. Wer sich die diversen politischen Magazine vor allem in den Jahren von 2008 bis 2014 ansieht, wird es feststellen können. Mit der angebotenen Option eines EU-Beitritts, der an eine NATO-Mitgliedschaft gekoppelt sein sollte, war klar, wer wen zu bedrohen gedachte.
Das Wissen um diese Geschichte ist vorhanden, es kollidiert allerdings mit der Vernichtung der Lufthoheit eines zuweilen investigativen Journalismus und einem nahezu totalitären Schub während der Corona-Krise. Dadurch wurde eine Atmosphäre erschaffen, die das Phänomen der kognitiven Dissonanz sogar zu einem bequemen Refugium machte, wenn man sich nicht dem Risiko der öffentlichen Hinrichtung ausliefern wollte.
Und so befinden wir uns in einer Art der kollektiven kognitiven Dissonanz, die die Gesellschaft in einen Zustand versetzt hat, der mit dem Kaninchen vor der Schlange gut verglichen werden kann. Für Sozialpsychologen ist der gegenwärtige gesellschaftliche Zustand ein wahrer Fundus. Ein Phänomen jagt das andere. Der so genannte Benjamin-Franklin-Effekt, der wachsende Sympathie mit einem vermeintlichen Opfer vergrößert, sobald man ihm hilft, bis zu dem massenhaft vertretenen Pinocchio-Syndrom, das die zunehmende Unfähigkeit beschreibt, überhaupt noch die Wahrheit zu sagen bzw. es zu einem Zwang hat werden lassen, permanent sich und andere zu belügen, ist vieles vorhanden.
Die zu konstatierende kollektive kognitive Dissonanz ist dazu geeignet, jedwede Lösung gesellschaftlicher Probleme zu verhindern, geschweige denn eine Strategie zu beschreiben, die einen vernünftigen politischen Weg weisen könnte. Der verbreitete Selbstbetrug wird vor allem gespeist durch Ängste, in Konflikte zu geraten, wie zum Beispiel mit einem Bündnis, das zunehmend einem aggressiven Kriegskonsortium gleicht, in dem gegeneinander intrigiert wird und Sabotage-Akte verübt werden und der dieses Bündnis dominierenden Macht, die exklusiv ihre Interessen vertritt und das Bündnis dazu hemmungslos instrumentalisiert.
Der bereits angerichtete Schaden sollte dazu führen, den kollektiven Selbstbetrug zu beenden. Sollte!
