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S-Bahn-Station Yorckstraße: Nächtliche Begegnung

Neulich, in den frühen Morgenstunden, beim Verlassen der S-Bahn-Station Yorckstraße, tanzte mir in der nächsten Seitenstraße ein Mann entgegen. Er schien bester Laune, vielleicht auch ein wenig beschwipst zu sein. Immer wieder rief er laut den Namen unserer Kulturstaatsministerin in die Nacht und klatschte dabei laut in die Hände. Zumeist gefolgt von dem Satz: das kannst du dir nicht ausdenken! Als ich mich ihm näherte, kamen mir bestimmte Züge des Mannes bekannt vor, doch bevor ich mich näher vergewissern konnte, hatte auch er mich erspäht und wechselte schnell die Straßenseite, um mir aus dem Weg zu gehen. Dabei sah er mich an und entschuldigte sich höflich, er sei in großer Eile, denn er müsse noch vor Toresschluss ins Hotel Sankt Matthäus. Vielleicht träfe man sich zu einer anderen Gelegenheit mit etwas mehr Zeit. Und schon lief er schnellen Schrittes davon, ohne mit der annähernd irrsinnigen Deklamation des Namens der Kulturstaatsministerin aufzuhören und sich köstlich zu amüsieren.

Das Gesicht blieb haften und die Stimme schien mir unverwechselbar. Die Begegnung ließ mich nicht ruhen und als ich recherchierte, ob es ein Hotel Stankt Matthäus gab, stellte ich fest, dass das nicht der Fall war. Allerdings gibt es den Alten Kirchhof Stankt Matthäus. Und es ist die Stätte,  wo der Sänger Rio Reiser begraben liegt. Da wurde mir klar, wen ich getroffen hatte. Wahrscheinlich darf er, wie andere auch, im Schutze der Nacht manchmal das Gelände verlassen und sich ein wenig umsehen, was die Zeit so mit den Menschen und ihren Verhältnissen angestellt hat. Und irgendwo musste er gehört haben, wer das Amt des Kulturstaatsministers innehat. Das war wohl Zuviel für ihn, sodass er dann doch, gegen jede Erlaubnis, sich in einem Späti einen Flachmann geholt und den umgehend geleert hatte, um sich dann auf den Weg nach Hause zu machen und möglichst schnell den Deckel seines Domizils wieder zuzuklappen.

Bei dem Gedanken, dass mir das Privileg zuteil geworden war, diese Figur noch einmal zu sehen, wurde mir ganz warm ums Herz. Was hatten er und die Band Ton, Steine, Scherben ihren Zeitgenossen doch für Texte hinterlassen, die viele dieser Generation, selbst bei der Wahl ihres letzten Gehäuses, nie mehr vergessen sollten. Und später, als die Straßenkämpfe vorbei waren, hinterließ er mit dem Junimond ein unglaubliches Postskriptum einer verlorenen Liebe. Und nicht zu vergessen den König von Deutschland. 

Jener König hatte nämlich, was viele gar nicht wissen, noch ein sehr spannendes Nachleben in vielen Seminaren. Die Frage, was würden Sie machen, wenn Sie König von Deutschland wären, oder, in Bezug auf das Wirken in vielen Organisationen, was würden Sie konkret tun, wenn Sie könnten, wie Sie wollten? Eine Übung, die immer sehr aufschlussreich war und gleichzeitig viele Defizite aufzeigte und Lösungsansätze zum Vorschein brachte.

Und, als ich mich daran erinnerte, kam mir der Gedanke, dass in einer Zeit, in der immer mehr Menschen den Blick im leeren Entsetzen abwenden, gerade diese Frage allein, zumindest mental, zu einem Akt der Befreiung werden könnte. Angesichts von Krieg, Kriegsgefahr, Inflation, Verarmung, der Vernichtung von Ressourcen und Umwelt und der Zerstörung vieler Sozialsysteme, was würden wir tun, wenn wir könnten, wie wir wollten? Die Frage mögen sich alle, die noch etwas vorhaben mit ihrem Leben, bitte stellen!

Ich war sehr dankbar, diese Begegnung gehabt zu haben, weil sie mich an vieles, was Mut macht und Menschlichkeit zeigt, erinnerte. Und ich habe mir vorgenommen, immer, wenn ich in Berlin bin, nachts bis zur S-Bahn-Station Yorckstraße zu fahren, dort auszusteigen und um den Alten Kirchhof Stankt Matthäus zu streichen. Vielleicht habe ich Glück und treffe ihn noch einmal. Dann holen wir unser Gespräch nach. Versprochen! Zumindest meinerseits.

König ohne Land

Der Junge, der in seinen wilden Jahren alles kaputt schlagen wollte, was ihn kaputt macht, der dann später, geläuterter und lyrischer mit einer Vision spielte, die Charme hatte. Das alles, so ließ der schon lange in kühler Erde ruhende Rio Reiser verlauten, denn alles, und noch viel mehr, würd ich machen, wenn ich König von Deutschland wär. Rio Reiser wäre nicht der einzige, der sich wundern würde, was aus dem rebellischen und visionären Deutschland geworden ist. Selbst zu einem Zeitpunkt, zu dem ein König endlich einmal, quasi über Nacht, zuschlagen könnte, selbst zu einem solchen Zeitpunkt liegt das Leichentuch des Schweigens über dem Land. Als herrschte hier nur ein Monarch, nämlich der der Schattenwelt. Denn wo die Phantasie keinen Platz mehr hat, da ist es trostlos, auch bei vollen Töpfen.

Denn, selbst laut Verfassung, hat das Land seit letzter Woche keine Regierung mehr. Ja, die alte wurde abgewählt und die neue hat sich noch nicht konstituiert. Da tüfteln jetzt die unterschiedlichen Fraktionen eines wie auch immer gearteten Mittelstandes an einer programmatischen Konsens-Formel. Egal, wie diese aussehen wird, wer nicht zum Mittelstand zu rechnen ist, und das ist die numerische Mehrheit, wird sich in den nächsten Jahren umsehen können. Wonach? Nach einem König, der zumindest das Prädikat des aufgeklärten Monarchen verdiente und den so genannten Kleinen Mann auch auf dem Zettel hat. Von den Piraten aus dem fernen Jamaika ist auf jeden Fall keine Staatsführung zu erwarten, die des Volkes Zufriedenheit wird erzeugen können. Aber wie steht es schon in der Bibel: Den sieben mageren Jahren werden weitere sieben magere Jahre folgen. Stimmt das wirklich? Ja, das geht so lange, bis du aufstehst und dich deiner visionären Pflicht erinnerst und der Welt neue Hoffnung bringst.

Jetzt wäre die Zeit für einen König von Deutschland. Der könnte einfach in den Reichstag, den sie heute Bundestag nennen, marschieren, mit Gefolge und den Insignien der Macht, vielleicht einem schlichten Hammer und einer Waage, und den erstaunten Gefolgsleuten der parlamentarischen Demokratie erklären, dass er auch in Zukunft ihren Rat benötige, aber erst einmal einige Dinge gerichtet werden müssten, die sich nicht in endlosen Debatten herausschrieben ließen.

Und dann würde der König von Deutschland mit milder Rede und mitfühlenden Worten diese Dinge benennen. Wie er die Geldverleiher für eine Zeit in den Turm werfen ließe, wie er die Hersteller der Droschken unter Druck setzen wolle, damit sie nicht mehr die Luft verpesteten mit ihren alten Modellen, wie er die kleinen, emsigen Untertanen, die nur von ihrer Hände Arbeit lebten, von der Steuer befreien und die fetten, reichen, mit mehreren Wohnsitzen ausgestatteten Bürger dafür mehr zur Kasse bitten würde. Und dass er alle Teile der Armee zurück nach Hause hole, denn sie seien da, das Land zu verteidigen, und das ginge nur von heimischem Boden aus, und sonst nichts. Und wie er das Recht, als Mitglied des Reiches zu werden erwürbe, wenn man schlicht hier geboren sei. Und natürlich gebe es Saturnalien, es würde einmal wieder so richtig gefeiert und gesoffen, und die Bürger sollten wieder lernen, ihr Maul auf zu machen und alles zu kritisieren, wobei sie mithelfen könnten, es zu verbessern.

Aber, obwohl der König immer noch redet, wird klar, dass selbst der Zustand eines regierungslosen Landes keinen König hervorbringen wird. Nicht einmal in der Phantasie. Denn die ist auch tot. Und was will ein König in einem Land ohne Phantasie?