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In Zeiten des Zorns

Nehmen wir einmal an, wir hätten es mit Mandatsträgern zu tun, die außerhalb eines Korsetts wie auch immer gearteter Zwänge die Freiheit besäßen, über die jetzige Lage in Europa und der Welt nachzudenken. Allein schon die Beschreibung müsste eine andere sein als diejenige, die im Vorfeld der Europawahlen kommuniziert wird: Angefangen in Deutschland, im eigenen Land, da treffen wir eine Situation an, die gekennzeichnet ist durch eine noch nie da gewesene Kluft zwischen Arm und Reich, durch eine Atmosphäre der Unsicherheit und Zukunftsangst. Die ökonomischen Statistiken weisen immer noch einen Handelsbilanzüberschuss aus, die Exportquoten sind sensationell, aber irgendwie kommt das in der Gesellschaft nicht an. Es gäbe eine gänzlich andere Regierung, wären die Alternativen real, aber vieles ist in Bewegung.

Deutschland ist in Europa wegen seiner Wirtschaftspolitik isoliert. Das Schema Aufnahme wirtschaftlich schwächerer Länder zwecks Marktschaffung, Überschwemmung dieser mit Krediten, Eintausch der Kredite gegen Warenerwerb vornehmlich aus Deutschland, Rückzahlungsunfähigkeit der Schuldner bei Sanierung derselben durch Privatisierung staatlichen Vermögens hat tiefe Narben hinterlassen. Hinzugekommen ist die Migrationspolitik, die in anderen europäischen Ländern Panik ausgelöst hat. Mehrere Risse gehen durch Europa, einer trennt zunehmend den Osten ab, beim Süden ist das bereits geschehen, mit dem Brexit folgt der äußere Westen. Die plötzlich wiederentdeckte Allianz mit Frankreich war bereits bei der jüngsten Zeichnung des Aachener Vertrages brüchig.

Die Sicherung durch die Vereinigten Staaten ist dahin, der Sturz derselben nach der Weltfinanzkrise 2008 hat die Weltsupermacht Nummer Eins nicht nur wirtschaftlich geschwächt, sondern ihr auch den ideologischen Esprit genommen. Sie treibt jetzt wie ein klassischer Imperator Deutschland und Europa vor sich her und rasselt mit dem Säbel.

Kennst du deine Feine, kennst du dich selbst, hundert Schlachten ohne Schlappe. Gemäß dieser alten Militärweisheit wäre es geraten, die durchaus vorhandenen wirtschaftlichen Stärken in der Ausgestaltung neuer außenpolitischer Konstrukte mit in die Waagschale zu werfen. Es würde allerdings, angesichts der geopolitisch sich zuspitzenden Lage, erforderlich sein, nationale, strikt auf Verteidigung ausgerichtete Streitkräfte aufzubauen, die diesen Namen verdienten. Zudem funktionierte das alles nur, wenn der aufgekündigte Konsens dessen, was einmal unter sozialer Marktwirtschaft bedingt funktionierte, wieder zu reanimieren, um die gesellschaftliche Kohäsion herzustellen, die erforderlich ist, um strategische Herausforderungen in Angriff zu nehmen.

Die obige Annahme entpuppt sich jedoch als Illusion, weil niemand willens und fähig ist, dieses Räsonnement anzustellen. Der große, abstrakte Diskurs über die Notwendigkeit der allumfassenden Digitalisierung hat anscheinend dem politischen Personal derart das Hirn frittiert, sodass niemand mehr in der Lage ist, eine realistische Situationsanalyse für eine klassische Mittelmacht anzustellen. Aus einem einstigen strategischen Vorteil, dem militärischen Schutz durch die USA ohne Rechnung, ist der gravierendste Nachteil überhaupt geworden.

Das Positive an der europäischen Situation ist ein gemeinsames Grundempfinden der Menschen in den Zentren wie an den Rändern. Die Enttäuschung, den der Appell an Frieden und Völkerverständigung ausgelöst hat, indem er verunstaltet wurde durch imperiale Gier und die systematische Verarmung und Entrechtung derer, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, ist riesengroß. Die Zorndepots in Europa sind prall gefüllt und die Aktivitäten, die nach innen gerichteten Polizei- und Sicherheitsapparate auszubauen, hektisch. Vieles spricht dafür, dass die Zeit des wohl temperierten Kalküls der des Zorns gewichen ist.