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Von Klassen und Optionen

Manchmal ist festzustellen, dass Begriffe, die längst nicht mehr zeitgemäß galten, von einer neuen Entwicklung wieder eine Dynamik und Aktualität erhalten. Der Begriff der sozialen Klasse ist so ein Beispiel. So, wie unsere Gesellschaft sich auf eine zunehmende Polarisierung zubewegt, hat sie ihre Entsprechung in der Fokussierung auf die Menschengruppen, die dabei eine Rolle spielen. Es gibt diejenigen, deren Reichtum kaum noch mit bloßem Auge zählbar ist und diejenigen, die, um sich den Luxus einer zusätzlichen Tube Senf leisten zu können, für einen Lohn von einem Euro in der Stunde zur Arbeit gehen. Oder da sind auf der einen Seite diejenigen, und es sind durchaus viele, die von der Globalisierung profitiert haben, die mehrere Sprachen sprechen, häufig reisen, einen entsprechenden Horizont vorweisen und in vielerlei Hinsicht als Spezialisten gelten. Ihnen stehen diejenigen gegenüber, die nie ihr nahes Umfeld verlassen haben und die jede Veränderung zeitgleich mit einer weiteren Einschränkung erleben.

Im klassischen Sinne haben die beschriebenen Gruppen nichts mit der sozialen Klasse zu tun, die vor allem von Marx definiert worden ist. Aber ihre Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Lager hängt in starkem Maße mit den sozialen Ausgangsbedingungen zusammen. Der Klassenbegriff passt dennoch sehr gut, weil er die Verwerfung beinhaltet, die mit der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Gruppe vermittelt wird. Zu den Klassen gehört Kampf, weil sie sich in ihrer Erfahrungswelt wie in ihrem Interesse diametral entgegenstehen. Und dass sich diametral gegenüber stehende Klassen gegenseitig diffamieren, ist so alt wie die Klassen selbst. Auch das ist gegenwärtig zu erleben, die in vielerlei Hinsicht begüterten schreiben den Verlierern den entsprechenden Horizont ab, und letztere wiederum werfen den Gewinnern vor, sie hätten auch die letzte Ahnung vom Leben verloren. Das Tragische, das sich hinter diesen gegenseitigen Vorwürfen verbirgt, ist, dass beide Seiten Recht haben. Da wird wohl kein Konsens mehr gefunden werden. Die Zeichen stehen auf Sturm.

Zur Beobachtung der gesellschaftlichen Spaltung gehört noch eine andere Kategorie, die zumindest mental eine große Rolle spielen wird. Es ist die der Wahl, der Option. Auf der einen Seite hat die Individualisierung dazu geführt, dass es unzählige Optionen für diejenigen gibt, die es sich leisten können. Ein Besuch in einem Restaurant macht es deutlich: wer es bezahlen kann, muss ein regelrechtes Bio-Interview führen, bis seine Bestellung die individualisierte Note bekommt, die ihm der Gastronom, der sich an dem Grundbedürfnis der Spezifizierung ausrichtet, anbietet. Auf der anderen Seite wird eine Frikadelle immer eine Frikadelle bleiben. Ein Teil der Gesellschaft durchlebt eine regelrechte Orgie der Optionen, während der andere sich auf die monotone Ausrichtung des Notdürftigen beschränken muss. Es versteht sich, dass sich das Verständnis für das Varianzbedürfnis der anderen, der Gewinner, in Grenzen hält und als Gespreiztheit erlebt wird. Auch da sieht es finster aus, wenn noch jemand auf Versöhnung spekulieren sollte.

Bleibt noch eines: In Zeiten der zunehmenden Optionen, quasi auf einem historischen Hoch der Möglichkeit individualisierter Entscheidung in der Politik mit einem Begriff wie „alternativlos“ zu arbeiten, hat die gleiche Qualität wie die berühmten Worte der letzten französischen Königin Marie Antoinette, die den nach Brot rufenden, hungernden Aufständischen riet, im Falle des mangelnden Brotes doch Kuchen zu essen. Wenn der Zynismus nicht mehr bemerkt wird, ist es längst zu spät.

Von Parvenüs und denen, die ihre Klasse nicht verraten

Erdogan ist so einer. Bei allem, was über seine Biographie bekannt ist, kommt er von ganz unten. Irgendwann in Istanbul gestrandet, Gelegenheitsjobs, Kringelverkäufer. Früh stellte sich heraus, dass er so etwas wie eine Führernatur besaß. Der langsame, aber stetige Aufstieg, der aus dieser Qualität erwuchs. Führernaturen reüssieren nicht unbedingt in der Geschäftswelt, es sei denn, ein Faible für Ökonomie geht mit dem Alpha-Gen einher. Diejenigen, die ihr Führertum durch Eloquenz und Charisma protegieren, sind zuhause im Metier der Welterklärung und der Massenpsychologie. Dort erzielen sie große Erfolge, sie organisieren Mehrheiten und mobilisieren die Masse. Diese Menschen par excellence Parvenüs zu nennen, wäre jedoch falsch.

Das Spezifikum des Parvenüs ist recht einfach erklärt. Der Parvenü ist die Sorte des Aufsteigers, der schnell lernt, sich in anderen sozialen Systemen zu bewegen und der vor allem nahezu pathologisch dazu tendiert, seine eigene Herkunft möglichst schnell zu vergessen und zu negieren. Parvenüs legen alles ab, was an die eigene soziale Vergangenheit erinnert. Das sind vor allem die Dinge, die das anderen symbolisieren. Stattdessen streben sie manisch nach der Erlangung der Symbole der höheren, neuen Identität. Beim Parvenü stellt sich sehr schnell heraus, dass das ursprüngliche Motiv, dem Elend zu entkommen, vielleicht nur anfangs politischer Natur war. Sobald er den neuen Status erreicht, ist davon nicht mehr die Rede. Der Status wird zum höchsten Ziel, das soziale Programm zählt nichts mehr. Aus der Vehemenz und Tatkraft, mit dem es anfangs verfolgt wird, wird die bloße Geilheit auf den Status. Der Besitz, der Exklusivität vermuten lässt, ist das ausschließliche Ziel. Erdogan mit seinem Palast ist so einer, im Kleinen gibt es davon viele, wir müssen uns nur umschauen.

Im Gegensatz zum Parvenü existieren noch andere, die es nach oben geschafft haben. Mit Charisma, mit Eloquenz und mit Intelligenz. Auch sie besitzen einen Willen zur Macht, aber er ist getrieben von dem Wunsch, das Leben zu gestalten, Verhältnisse zu ändern, sich sozial zu verpflichten. Auf sie trifft die Beobachtung zu, dass ihre Größe daran zu bemessen ist, wie sie nach dem Aufstieg die kleinen Leute behandeln. Sie vergessen ihre soziale Herkunft und ihre Klasse nicht, sie haben den Respekt bewahrt. Respekt vor ihrer eigenen Geschichte und Respekt vor denen, die die eigene Vergangenheit repräsentieren. In den alten Arbeiterkreisen kursierte das Wort, man verrate seine eigene Klasse nicht, das war damit gemeint. Wer den Verrat betrieb, der war schnell vergessen. Diejenigen, die ihre Klasse nicht verraten, sind ebenfalls leicht zu erkennen, am Respekt vor den kleinen Leuten, am Desinteresse an Status und an ihrer Liebe zum Gelingen.

Oft sieht es so aus, als sei die Menge derer, die zu den Parvenüs zu rechnen sind, weit größer als die derer, die oben sind und von unten kommen und dennoch nicht verkommen. Das liegt an der Dimension der Verkommenheit der Parvenüs. Das erregt Aufsehen und stößt ab. Und es gibt dem Pessimismus Auftrieb. Eine gute Übung gegen die drohende Depression ist die aktive Suche nach denen, die in der humanen und sozialen Sphäre ihre Qualität bewahrt haben. Es gibt sie, das Auge dafür muss nur geschult werden. Sie zu stärken, ist eine wichtige und praktische Angelegenheit. Vergessen wir die Parvenüs. Sie sind ein Irrtum der Geschichte.