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Zur Lage: Achten Sie auf Elefanten, Affen und Tiger!

Wenn Turbulenzen zum Normalzustand werden, ist es ratsam, sich für eine Weile mit grundsätzlicheren Phänomenen zu beschäftigen. Denn, vor allem vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung, vieles von dem, was im Jetzt für so manche Aufregung sorgt, ist bereits viele Male von Natur wie Gesellschaft durchgespielt worden. Das hilft zwar nicht, gegenwärtige Dilemmata im Sinne einer Rezeptur zu lösen, aber es vermittelt einen Gemütszustand, der bei der Findung von Lösungen erforderlich ist. Das Überhitzte, das Emotionale, das Empörte hat noch nie zu einem vernünftigen Strukturwandel beigetragen. Auch das zeigt die Geschichte. Eine gewisse stoische Gelassenheit hat hingegen oft zu weisen Entscheidungen geführt.

Um eine Idee von dem zu bekommen, sei, nur so als Einstieg, die Lektüre von Büchern des Briten Simon Winchester empfohlen. Er hat in zahlreichen seiner Bücher genau diese Distanz wahren können, die erforderlich ist, um große, vielleicht auch durch Katastrophen ausgelöste Veränderungen der Zivilisationsgeschichte begreifen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen zu können. Was sich immer wieder herausstellt bei dieser Lektüre, bei der es um Vulkanausbrüche, Erdbeben, grandiose Fehlannahmen oder erfolgreiche wissenschaftliche Betrachtungsweisen geht, ist die Tatsache, dass vieles, was zur Lösung bestimmter Probleme beigetragen hat, nicht im allgemeinen Fokus der jeweiligen Zeit gestanden hat. Es heißt, dass sich die Öffentlichkeit, wie sie auch immer konstituiert war, schön am Rande der wirklichen Entwicklung bewegt hat, während eher Außenseiter, intellektuelle wie indigene und sogar Tiere mit ihrem Verhalten auf Phänomene hinwiesen, die als große Katastrophe auf der Agenda standen. Und nicht selten haben oder hätten diese Außenseiter auch vieles verhindern können, wenn man auf sie geachtet hätte. Aber, das nur am Rande, mögen nur die bezichtigen, die frei von Schuld sind.

Hätten die Einwohner Jakartas dem Elefanten, der kurz vor dem Ausbruch des Krakatau in einem Nobelhotel der Stadt Amok gelaufen ist eine tiefere Aufmerksamkeit geschenkt, dann wäre ihnen vieles erspart geblieben. Dann wäre es ihnen vielleicht so ergangen wie den vielen Einwohnern der Adamanen, die den schreienden Elefanten und Affen, die plötzlich ins innere der Insel auf die Berge rannten, gefolgt sind, bevor der Tsunami alles verschlang. Die Fähigkeit, den Tieren eine existenzielle Vernunft zuzuschreiben, rettete vielen Menschen das Leben. 

Betrachtet man die gegenwärtigen Naturkatastrophen und Kriege, beides miteinander verwoben und sich gegenseitig bedingend und befeuernd und sieht sich die Reaktion der gesellschaftlichen und politischen Institutionen an, egal wo, so muss man zu dem Schluss kommen, dass ein menschlicher, gesellschaftlicher, politischer und zivilisatorischer Lösungsansatz nicht von dort aus zu erwarten ist. Und zwar unabhängig davon, mit welchen Gesellschaftssystemen und Regierungsformen wir es zu tun haben. Denn die tatsächlichen Probleme, die auf das Existenzielle hinweisen, spielen bei den vorhandenen Institutionen immer nur eine untergeordnete Rolle. 

Die Konsequenz ist schlicht. Es ist sinnvoll, sich von den Aufmerksamkeitsakkumulatoren konsequent abzuwenden, die Probleme unabhängig von taktischen Vorteilen zu beschreiben, sich mit den grundsätzlichen Entwicklungstendenzen von Mensch und Natur zu beschäftigen und auf die kleinen, am Rande zu entdeckenden Zeichen zu achten, die vielleicht den Keim einer Lösung in sich tragen. Wer sich heute feiert, weil er alles erklären kann und für alles eine Lösung parat hat,  ist nichts anderes als ein Bestandteil der näher kommenden Katastrophe. Beim Erscheinen dieser Figuren kann man die Korken knallen lassen, die Hymne auf die Andrea Doria singen und den Augenblick genießen. Führen wird es zu nichts. Achten Sie lieber auf Elefanten, Affen und Tiger!  

Den Krieg gegen die Seuche entscheidet der Mittelbau

Niall Ferguson. Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft

Ja, was sagen die Historiker zur zeitgenössischen Seuche? Niall Ferguson ist einer von ihnen, und zwar ein renommierter. Er hat nun ein Buch vorgelegt, das sich nicht nur mit der historischen Betrachtung von Seuchen, sondern auch von Naturkatastrophen, Unfällen und Kriegen befasst. „Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft“ heißt das Werk. Es handelt sich dabei um keine leichte Kost. Einerseits sind die verschiedenen Kategorien bereits eine Herausforderung an sich, andererseits sind die von Ferguson angeführten Fakten zahlreich und präzise. Der Vorteil eines solch holistischen Anspruchs liegt allerdings auf der Hand. Er lenkt den Fokus auf die Vorhersagbarkeit, die Vermeidbarkeit und das Management von großen Krisen. Ferguson hat sich diesem Anspruch gestellt, was in Zeiten immer weiter um sich greifender Vermeidung von Verantwortung von großer Courage zeugt.

Um gleich die wesentlichen Fragen auf den Tisch zu legen: es existieren kaum erwähnenswerte Beispiele für die Vorhersagbarkeit von Katastrophen. Warnende Prognosen, dass solche Fälle irgendwann vorkommen können, waren immer vorhanden. Eine präzise Voraussage jedoch nicht. Verknüpft mit dieser Erkenntnis ist die Option der Vermeidbarkeit: wenn die Ökonomie aufgrund der Diversifizierung von Arbeitsprozessen brummt, wird, ohne Anzeichen einer bevorstehenden Unterbrechung von Lieferketten, der Appell, dass so etwas wird stattfinden können, ohne Konsequenzen verhallen. Und beim Management von großen Krisen richten sich die Blicke immer auf die großen, in der Verantwortung stehenden Entscheider. Ihnen werden die Schäden schlechten Managements in der Regel angehängt. Die Politik ist in der Wahrnehmung der meisten Bürger für schlechtes Management von Katastrophen verantwortlich.

Meines Erachtens ist es Fergusons Verdienst, dass er mit dieser Fehlinterpretation aufräumt. Selbstverständlich existieren Ausfälle auf der politischen Bühne wie ein Donald Trump, dennoch sind die kardinalen Fehler während der jüngsten Krise von den jeweiligen Bürokratien und ihrer Funktionsweise zu verantworten: In den USA, in Großbritannien, in Deutschland und in China. Aus unterschiedlichen Motiven handelt der jeweilige Mittelbau, der für die Umsetzung der politischen Strategie verantwortlich zeichnet, systemerhaltend, nicht der Komplexität entsprechend und in der eigenen Sichtweise zu segmentiert. Sollte es Lösungen geben, die aus den jüngsten Ereignissen entspringen, dann liegen sie in einer Reform der jeweiligen Bürokratie. Und in der Erkenntnis, dass kleine Staaten insgesamt besser mit Krisen umgehen können als gigantische Konstrukte, wie die USA, die EU oder China. Da kommen Perspektiven von größerer regionaler Autonomie in den Blick. Im Hinblick auf diese Überlegung erscheint die Forderung nach mehr Zentralismus in Deutschland als eine sehr bizarre Überlegung.

Abstriche zu der positiven Bewertung von Fergusons Buch sind in Bezug auf die abschließenden Überlegungen zu machen, die wie ein Absturz aus wissenschaftlicher Höhe in die Niederungen kolonialer Betrachtung bezeichnet werden muss. Dass er ausgerechnet als Brite China zum Hauptfeind aller konstruktiven Überlegungen zum Thema Katastrophenbekämpfung erklärt und nicht in der Lage ist, zumindest mental einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, der vieles von dem, was China heute unternimmt, aus den eigenen Erfahrungen eines kolonialen Opfers heraus zu verstehen sucht, ist schlichtweg enttäuschend.

Dennoch: Doom ist zu empfehlen, weil es viele vermeintliche Gewissheiten umstürzt und konstruktive Ansätze beinhaltet.

  • Herausgeber  :  Deutsche Verlags-Anstalt (13. September 2021)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Gebundene Ausgabe  :  592 Seiten
  • ISBN-10  :  3421048851
  • ISBN-13  :  978-3421048851
  • Originaltitel  :  Doom: The Politics of Catastrophe